Sommer unseres Lebens - Wiggs, S: Sommer unseres Lebens
Charles.“
„War es ihre Schuld?“
Ein leichtes Zögern. Dann sagte er mit fester Stimme: „Es war mein Fehler. Aber Jane war …“ Er atmete tief ein. „Charles und ich waren beide in sie verliebt. Und natürlich war er der Bruder, der ihr Herz gewann.“
„Warum sagst du ‚natürlich‘?“
„Weil er immer der Entschlossene war. Ich neigte dazu, zu zögern und alles zu analysieren, mich zu fragen, wie jede hypothetische Situation ausgehen würde. Charles hingegen war der Unerschrockene, der einfach drauflosstürmte. Er fragte nie. Wenn er etwas fühlte, gab er dem Gefühl voller Inbrunst nach. Wie auch immer – er hatte sich in Jane verliebt und setzte alles daran, ihr Herz zu erobern. Ich habe mich in Jane verliebt und spielte die gesamte Beziehung erst einmal in meinem Kopf durch, wobei ich zu dem Entschluss kam, dass sie in einem Desaster enden würde. Ich konnte nur daran denken, wie unterschiedlich wir waren. Ich kam aus einem privilegierten Elternhaus und sie aus einer stolzen Arbeiterfamilie. Unsere Eltern sprachen kaum die gleiche Sprache. Charles war das alles egal, denn er war ein Idealist. Er glaubte, mit genügend Liebe und Engagement könne man die Welt erobern.“
„Und was ist mit dir, Granddad?“
„Ich war der Zyniker. Ich habe geglaubt, die Welt würde sich über Liebe und Aufrichtigkeit lustig machen. Als Jane mir endlich das Gegenteil bewiesen hat, war es längst zu spät, um noch eine Bedeutung zu haben. Sie gehörte bereits Charles. Es gab einen Moment, in dem ich dachte, ich hätte vielleicht eineChance, aber … aber ich hatte mich geirrt.“
Wieder dieses Zögern. Eine ganze Welt unausgesprochener Gedanken lebte in diesem langen Schweigen.
„Granddad?“
„Ich weiß einfach nicht, wo ich anfangen soll.“
„Du hast bereits angefangen. Du hast mir davon erzählt, wie du als Junge hierhergekommen bist. Und dann wieder, als du im College warst. Ich habe dem, was du mir erzählt hast, entnommen, dass sowohl du als auch dein Bruder ein Auge auf Jane geworfen hattet.“
„Es ist alles so lange her.“ Erinnerungen überschatteten die Augen seines Großvaters.
Da gab es etwas, was er nicht erzählte. Ross konnte jedoch nicht sagen, was es war.
George hatte seine Augen nun geschlossen. Ross holte eine Decke und legte sie ihm vorsichtig über den Schoß.
23. KAPITEL
New Haven, Connecticut
Herbst 1955
I m Fachbereich Journalismus der Yale University war George der Beste seines Jahrgangs. Er war bekannt für seine Intelligenz und hatte es geschafft, Chefredakteur der Yale Daily News zu werden, einer Campuszeitung, die alles in den Schatten stellte, was ein College je produziert hatte. Seine Kollegen in der Redaktion nannten ihn Clark Kent, weil sein Investigationstalent legendär war. Seine Rivalen nannten ihn Clark Can’t, weil er einfach kein Glück bei den Ladys zu haben schien.
Dafür gab es einen Grund, aber den würde nie jemand erfahren. George hatte das Mädchen, das er liebte, seinem Bruder überlassen.
So jedenfalls sah er die Situation. Und so würde er immer über sie denken. Niemand sonst wusste von seinem Opfer, weil er die Wahrheit in dem tiefsten, geheimsten Winkel seines Herzens verbarg. Selbst Charles wusste nicht, dass sein Bruder ihm seinen Herzenswunsch in die Hände gelegt hatte.
Es hatte keinen Sinn, darüber zu sprechen. George wollte nicht, dass sein Opfer bekannt wurde. Er war kein Kandidat fürs Märtyrertum. Er suchte einfach nur Wege, um in die Zukunft zu flüchten und aufzuhören, in der Vergangenheit zu verweilen und sich Gedanken darüber zu machen, was gewesen wäre, wenn er nur etwas mehr Selbstbewusstsein gehabt hätte. Mehr Zuversicht. Mehr Vertrauen in sein Herz.
Dann wiederum redete er sich ein, dass eine Romanze mit Jane Gordon sowieso nirgendwohin geführt hätte. Sie stammten aus unterschiedlichen Welten, und es wäre ihnen bestimmt gewesen, einander am Ende des Sommers das Herz zu brechen. Und so war es Charles und nicht George, der diesen Schmerz zu erleiden hätte.
Ihre Eltern würden vermutlich nie von dem Drama und der Rivalität erfahren, die sich um Jane Gordon entsponnen hatten. Die immer wieder angedeuteten Hoffnungen ihrer Mutter, die Jungen würden sich für die Darrow-Mädchen interessieren, erfüllten sich leider nicht. Die Darrows und die Bellamys hatten sich schon Hoffnungen auf die Gründung einer neuen Dynastie aus ihren beiden Familien gemacht, aber trotz ihrer Bemühungen wurde daraus nichts.
Von Zeit
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