Sommer unseres Lebens - Wiggs, S: Sommer unseres Lebens
Ziele“, antwortete sie. „Ob wir sie nun niederschreiben oder nicht. Ein Teil von uns will die Übersicht behalten.“
„Bullshit!“
Sie war bereits ganz gut darin, seine Stimmung zu lesen. Vielleicht, dachte sie, ist das ein Grund dafür, warum ich mich so zu ihm hingezogen fühle. Er war grundehrlich – oder schien es zumindest zu sein – und ließ seine Gefühle dicht unter der Oberfläche schweben. Sie verstand, dass er ihr nicht vertraute, und hatte sich entschieden, nicht dagegen anzukämpfen. Sie würde niemals irgendjemandem gegenüber vollkommen ehrlich sein können. Manchmal wurde der Drang, alles zu erklären, übermächtig und baute sich mit einer schmerzhaften Intensität in ihrer Brust auf. Sie sehnte sich verzweifelt nach jemandem, der sie kannte; nicht nur die Umstände ihres Lebens, wie Mel Reno, sondern sie. Sie sehnte sich nach jemandem, der bestätigte, dass sie wichtig war.
Sie räusperte sich und fragte: „Sind Sie nun gewillt, Ihrem Großvater zu helfen, Kontakt mit seinem Bruder aufzunehmen?“
„Angenommen, ich sage Nein?“, sagte Ross.
„Dann sind Sie nicht der Mensch, von dem er mir mit so viel Stolz erzählt hat. Aber ich denke, das sind Sie“, sagte sie schlicht. Sie hielt ihm einen Zettel hin. „Das sind Charles Bellamys Kontaktdaten.“
Er schnappte sich den Zettel und steckte ihn in seine Tasche.
„Er wird Ihnen sehr dankbar sein, Ross.“
Ross fuhr sich mit der Hand durch sein kurz geschnittenes Haar. Sie fragte sich, wie es wohl aussähe, wenn das Militärische hinausgewachsen war. Vermutlich würde sie es nie erfahren. Wie jämmerlich war es bitte, Beziehungen zu haben, die kürzer waren als ein Militärhaarschnitt?
„Sein verdammter Bruder“, murmelte Ross. „Sie haben ein ganzes Leben lang nicht miteinander gesprochen. Und jetzt muss es auf einmal eine geheuchelte Wiedervereinigung geben.“
Claire dachte an das, was ihr George über den lange zurückliegenden Sommer erzählt hatte. „Ich denke nicht, dass es geheuchelt sein wird.“
„Meinetwegen, aber versteht er es denn nicht? Man sollte sich wie Brüder benehmen, wenn man lebt – nicht wenn man stirbt! Wenn zusammen zu sein und einander zu kennen und sich verbunden zu fühlen ihm guttut statt ihn zu deprimieren.“
„Es besteht kein Grund zu der Annahme, dass er deprimiert sein wird. Es ist das, was er möchte“, sagte Claire. „Wenn man an den Punkt kommt, an dem er sich befindet, hört man auf, sich Sorgen darüber zu machen, was angebracht ist, und fängt an, das zu tun, was man will.“
Ross schwieg eine ganze Zeit lang. Dann fragte er: „Was steht noch auf seiner Liste?“
„Alles Mögliche. Von Gesprächen mit seiner Familie – nicht nur seinem Bruder – über Kleinigkeiten wie ein spezielles Buch zu lesen oder eine Runde Golf zu spielen bis zu großen Abenteuern.“
Er drehte sich zu ihr um und brachte ein Lächeln zustande. „Was für große Abenteuer?“
„Das Größte ist sogar eines, bei dem Sie ihm als Pilot weiterhelfen können.“
„Will er etwa mit einem Hubschrauber fliegen? Ich schätze, das ließe sich arrangieren.“
„Nicht fliegen“, korrigierte Claire. „Sondern herausspringen. Und zwar mit einem Fallschirm aus einem Flugzeug.“
„Fallschirmspringen?“ Ross schaute sie perplex an. „Sie machen Witze!“
„Du kennst mich doch“, meldete sich George zu Wort, der im gleichen Moment auf die Terrasse trat. „Über so etwas würde ich keine Witze machen.“
„George.“ Claire hielt die Schaukel mit ihrem Fuß an. „Ich habe Sie gar nicht gehört.“ Sie musterte ihn kurz von Kopf bis Fuß. Er sah erfrischt aus nach seinem Nickerchen. Seine Augen funkelten aufmerksam hinter den Gläsern seiner Brille.
„Wie schön, dass ihr über meine Liste diskutiert!“
„Das ist nur eines unserer Themen.“ Ross sah seinen Großvater aufmerksam an. „Ich wusste nicht, dass du Polio überlebt hast. Wieso hast du mir nie davon erzählt?“
„Das war vor so langer Zeit“, winkte George ab. „Es hat kaum noch eine Bedeutung. Wusstest du, dass die größten Fortschritte in der Rehabilitierung von Polio-Patienten von einer Krankenschwester kamen?“
„Schwester Elizabeth Kenny“, sagte Claire. „Sie hat gezeigt, dass Polio-Patienten, die sich einer physikalischen Therapie unterzogen, eine bessere Chance auf Erholung hatten als die, die man bewegungsunfähig hielt. Haben Sie es so überwunden?“
George nickte. „Am Ende, ja. Anfangs lag ich in einer
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