Sommer unseres Lebens - Wiggs, S: Sommer unseres Lebens
Eisernen Lunge.“
Ihr Herz zog sich schmerzhaft zusammen, als sie sich an die alten Schwarz-Weiß-Fotos von eingeschlossenen Kindern erinnerte, die sie mal gesehen hatte. Reihe um Reihe lagen sie nebeneinander in den Krankensälen. Wie gefangen sie sich gefühlt haben mussten, wie hilflos.
„Mein Bruder Charles hat mir immer vorgelesen“, erzählte George leise. „Patienten mit akuten Anzeichen der Krankheit sind nicht ansteckend, also durfte er mich besuchen. Die Mehrheit der Menschen kann sogar dem Polio-Erreger ausgesetztwerden und bekommt die Krankheit doch nie. Charles war vermutlich einer von ihnen. Sie ließen ihn in das Krankenzimmer kommen, und er las mir stundenlang vor.“ Sein Blick verlor sich in der Ferne. „Wenn deine ganze Welt aus der Eisernen Lunge besteht, lebt man für die Augenblicke, die einen von dort entführen. Das haben Bücher für mich getan. Und ganz besonders Charles. Auch wenn er noch sehr jung war, war er ein bemerkenswert guter Vorleser. Er hat den gesamten Krankensaal unterhalten. Ich erinnere mich daran, dass er Das Dschungelbuch, Peter Pan und Jungs-Krimis vorgelesen hat.“
Claire schaute zu Ross und sah, dass er sich langsam für die Idee erwärmte, mit Charles Bellamy Kontakt aufzunehmen.
„Bücher waren mir wertvolle Gefährten“, fuhr George fort. „Aber es war schwer, für das, was man hatte, dankbar zu sein, wenn man in einer Eisernen Lunge lag.“
Ross fing ihren Blick auf. Etwas ganz Neues aus dem Leben seines Großvaters zu erfahren fesselte ihn sichtlich. Im College hatte Claire die Geschichte der Epidemiologie gelernt. Es war eine Sache, über die Polio-Epidemie zu lesen, die Statistiken und Muster der Ansteckung zu studieren, das Fortschreiten der Krankheit und den Wettlauf darum, einen Impfstoff zu finden. Aber bis jetzt hatte sie noch nie jemanden kennengelernt, der die Krankheit gehabt hatte.
„Ich hätte es mehr schätzen müssen“, überlegte George. „In vielen Fällen – zu vielen Fällen – kam die Diagnose Polio einem Todesurteil gleich.“
„Ich bin froh, dass Sie nicht gestorben sind, George.“
Mit einem Zwinkern in Ross’ Richtung sagte er: „Ich bin sicher, mein Enkel sieht das genauso. In späteren Jahren habe ich mich immer ein wenig wegen meines lahmen Beines geschämt. Ich habe viel zu viel Zeit damit verbracht, darüber zu brüten, was mir die Krankheit genommen hat. Aber ich war jung und konnte nicht anders, als mich eines Teils meiner Kindheit und meiner Gesundheit beraubt zu fühlen. Ich habe jeglichenSport und alle körperlichen Aktivitäten eingestellt.“
„Ich wusste nicht, dass Sie das Bein immer noch stört“, sagte Claire. „Es ist weit weniger auffällig, als Sie denken.“
„An diesem Punkt in meinem Leben bin ich darüber hinaus, mir Gedanken darüber zu machen, was andere Menschen über mich denken könnten. Es ist erstaunlich, wie einfach alles ist, nachdem ich aufgehört habe, mich darüber zu sorgen. Das hätte ich schon vor langer Zeit tun sollen. Ich bin sicher, das Gleiche werde ich übers Fallschirmspringen sagen …“
„Ja, was das angeht“, unterbrach ihn Ross. „Ich bin nicht so sicher, dass du unbedingt aus einem Flugzeug springen musst.“
„Deshalb habe ich ja auch so lange damit gewartet“, erwiderte George.
„Komm schon, Granddad! Ist das dein Ernst?“
„So ernst wie ein Herzanfall“, versicherte George ihm. „Ich gebe zu, es ist nicht sonderlich originell. Jeder zählt Fallschirmspringen zu den Dingen, die er vor seinem Tod noch einmal tun möchte. Ich denke, das liegt an dem allen Menschen innewohnenden Wunsch, fliegen zu können. Wir alle sehnen uns nach dieser Freiheit.“
„Vertrau mir!“ Ross winkte ab. „Es wird stark überbewertet.“
„Du lügst!“, widersprach George.
„Okay, es ist ein unglaubliches Gefühl“, gab Ross mit einem angedeuteten Lächeln zu. „Aber nur, wenn man das entsprechende Training und eine ausreichende Vorbereitung hatte.“
„Dafür habe ich keine Zeit“, erwiderte George unverblümt.
„Wie wäre es, wenn ich dich auf einen Flug mitnehme, ein paar Kunststücke mache …“
„Fallschirmspringen“, beharrte George. „Dazu gibt es keine Alternative. Ich will die Freiheit. Den langen Fall. Wovor hast du Angst, Ross? Dass ich mir wehtue? Dass ich sterbe?“ Er stützte die Hände in die Hüften. „Betrachte es mal so: Wenn ich beim Fallschirmspringen sterbe, musst du dir keine Sorgenmehr darum machen, mir mit den anderen Dingen
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