Sommer wie Winter
wird. Ja, sie hat sich kurz zu uns an den Tisch gesetzt und zur Manu gesagt: Ihr gebt ein hübsches Pärchen ab, du und dein Bruder. Gibt wohl nicht so viel Auswahl in eurem Dorf? Und die Manu hat gesagt: Er ist nicht mein Bruder, weißt du noch? Er ist das angenommene Waisenkind und macht die romantische und erdverbundene Arbeit. Und dann hat sie ihr Bierglas – versehentlich natürlich – umgestoßen und es ist über das Kleid und in den Ausschnitt der Wienerin geronnen. Ringsum haben die Leute gewiehert und ich bin mir wie in einem schlechten Heimatfilm vorgekommen. Nur die Prügelei hat noch gefehlt. Die Wienerin ist dann mit ihrem Freund abgerauscht.
Die Manu und der Alexander haben weiter gefeiert, fast die ganze Nacht lang. In der Früh ist die
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Manu so betrunken gewesen, dass der Alexander sie zum Porsche getragen und nach Hause gefahren hat.
Ja, aber am meisten ist in der Nacht der Vater betrunken gewesen. Ich habe gewusst, dass er mit der Bank große Probleme hat. Er ist nur an der Bar gestanden und hat ein Bier nach dem anderen bestellt. Die Mutter ist nur am Anfang dabei gewesen und sie hat zu mir und dem Vater gesagt: Sie geben doch ein nettes Paar ab, also mich würd’s freuen. Der Vater hat nichts gesagt. Einmal ist er zu den beiden auf die Tanzfläche gegangen und hat mit der Manu einen Walzer getanzt, er hat sie ganz schwungvoll herumgedreht. Sie ist immer sein Lieblingskind gewesen, irgendwie ist sie ihm von uns allen am ähnlichsten, wild und voller Ideen und Energie und nicht zu bremsen.
Ja, und wie dann alles rausgekommen ist im Dezember, da habe ich gleich an die Manu denken müssen und daran, wie sie den Alexander geküsst hat, vor allen Leuten.
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Therapiegespräch im Februar 1990
Dr. Z. und Alexander Sommer
Den ganzen Tag habe ich gegrübelt, wieso der Angermair sich so komisch verhalten hat, und bin nicht draufgekommen. Erst am Abend beim Melken ist es mir eingefallen.
Ich bin sofort aus dem Stall rüber ins Haus gelaufen und es hat wie verrückt geschneit, es ist so ein richtiger Schneesturm gewesen. In der Stube habe ich mir die Fotos genau angeschaut, und da habe ich’s gesehen. Ich habe den Mantel vom Vater gesehen, den er bei Martinas und Manus Taufe trägt, der ist schwarz gewesen und lang und hat auf den Schulterzierleisten jeweils zwei goldene Knöpfe gehabt, die hat man nur gesehen, wenn man wirklich genau schaut. Den Angermair habe ich verstanden, wieso er wollte, dass ich so schnell wegziehe von daheim, er hat Angst um mich gehabt.
Mir ist so schlecht geworden und schwindlig, ich habe mich hinsetzen müssen, mit dem Foto in der Hand, aber das Foto ist mir runtergefallen und das Glas ist zerbrochen. Ich habe mich gebückt und auf einmal habe ich so einen Druck in meiner Brust gespürt und ich habe losgeheult wie ein kleines Kind, ich habe nicht aufhören können damit. Beim Aufheben
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habe ich mich geschnitten und ich bin dagesessen mit dem kaputten Bild in der Hand und habe geplärrt und das Blut ist mir an den Fingern runtergeronnen.
In dem Moment ist die Mutter mit ein paar Gästen bei der Tür reingekommen und wie sie mich so sitzen sieht, fängt sie an zu gackern mit ihrer hohen Stimme, die sie immer hat, wenn Gäste dabei sind, und hört nicht mehr auf. Was ich denn da mache und wieso ich immer so tollpatschig sein muss und ich müsste ja im Stall sein und ob sie mir ein Pflaster holen soll, und so weiter, nur damit alle sie für die liebevolle, besorgte Mutter halten. Ich habe das kaputte Bild auf den Tisch geschmissen und bin aus der Stube gelaufen.
Ich habe nicht mehr klar denken können, ich wollte nur zum Vater und ihn zur Rede stellen, ins Gesicht wollte ich ihm schreien, dass er meine Mutter umgebracht hat. Angst habe ich keine gehabt, was hätte er mir schon tun können?
Ich laufe also raus und rüber zum Hotel, mit meinem dreckigen Stallgewand, und vor lauter Schnee und Wind habe ich fast nichts gesehen. Erst kurz vor dem Hotel sehe ich, dass der Vater zwei Reisetaschen in seinen Jeep schmeißt und einsteigt. Ich habe mir die Lunge aus dem Leib geschrien und ich bin mir sicher gewesen, ich bin mir auch heute noch sicher, dass er mich gesehen hat, ich weiß, dass er
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mich gesehen hat. Er hat kurz zu mir hergeschaut, wie ich auf ihn zugerannt bin und geschrien habe und er hat nicht reagiert, er ist einfach eingestiegen und losgefahren. Ich bin dem Auto noch nachgelaufen und er hat mich sicher im Rückspiegel gesehen, aber er hat nicht
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