Sommerbuch
hatte, sie schrieben oft an die Großmutter und erinnerten sie an dies und jenes, was passiert war, oder zitierten Anfänge von Liedern, die sie beim Lagerfeuer gesungen hatten. Die Großmutter fand alles etwas überholt und diese alten Mädchen sentimental, aber hin und wieder dachte sie freundlich an sie zurück; auch daran, daß die Pfadfinderbewegung zu groß geworden und nicht mehr so persönlich war, und dann vergaß sie die ganze Sache wieder. Die Kinder der Großmutter waren nie bei den Pfadfindern gewesen, damals hatte eben keiner recht Zeit, oder man kam auf die Sache nicht zu sprechen.
In einem Sommer besorgte Sophias Vater ein Zelt und stellte es in der Schlucht auf, damit er sich dort verstecken konnte, wenn zu viel Leute kamen. Das Zelt war so klein, daß man auf allen vieren hineinkriechen mußte, um hineinzukommen. Wenn man dicht nebeneinanderlag , gab es Platz für zwei. Licht oder Lampe durfte man aber nicht darin haben.
»Ist das ein Pfadfinder-Zelt ?« fragte Sophia.
Die Großmutter rümpfte die Nase. »Wir haben unser Zelt selbst genäht«, sagte sie, und erinnerte sich, wie sie aussahen, groß und stabil, graubraun. Dies hier war reines Spielzeug, ein hellgrünes Spielzeug für Veranda-Gäste, zu nichts nutze.
»Ist das nicht ein Pfadfinderzelt ?« wiederholte Sophia ängstlich.
Daraufhin meinte die Großmutter ja, vielleicht, wohl sehr modern.
Sie krochen hinein und legten sich nebeneinander.
»Du darfst jetzt nicht einschlafen«, sagte Sophia. »Erzähl jetzt, wie es war, wie es ist als Pfadfinder, und alles, was ihr gemacht habt .«
Vor sehr langer Zeit wollte die Großmutter über alles, was sie erlebt hatte, erzählen, aber damals hatte niemand daran gedacht, sie zu fragen. Und nun war ihr die Lust vergangen.
»Wir hatten Lagerfeuer«, antwortete sie kurz und war plötzlich melancholisch.
»Na und dann?«
»Ein großer Balken, der lange brannte. Wir saßen um das Feuer herum, und es war kalt. Wir haben Suppe gegessen .«
Komisch, dachte die Großmutter, ich kann nicht mehr beschreiben, ich finde keine Worte, oder vielleicht ist es nur so, weil ich mich nicht genug anstrenge. Es ist so lange her. Niemand hat etwas damit zu tun. Wenn es mir nicht Spaß macht, etwas zu erzählen, dann ist das so, als ob es nicht passiert sei. Es sträubt sich, und damit hat man es verloren. Sie richtete sich auf und sagte: »An bestimmte Tage kann ich mich nicht mehr so genau erinnern. Aber irgendwann mal kannst du ja versuchen, eine ganze Nacht im Zelt zu schlafen .«
Sophia brachte ihr Bettzeug ins Zelt. Als die Sonne gerade unterging, schloß sie das Spielhaus zu und sagte auf Wiedersehen. Sie ging ganz allein zur Schlucht, die an diesem Abend zu einem unendlichen, fernen Platz geworden war.
Verlassen vom lieben Gott, von Menschen und Pfadfindern, eine Wildnis vor Einbruch der Nacht. Sie zog den Reißverschluß zu und legte sich hin, mit der Decke bis an den Hals. Das gelbe Zelt glühte durch den Sonnenuntergang und wurde plötzlich sehr freundlich und klein. Niemand konnte hineinschauen und niemand hinaus, sie ruhte wie in einem Kokon von Licht und Stille. Gerade als die Sonne ganz unterging, wurde das Zelt rot, und sie schlief ein.
Die Nächte waren bereits lang geworden, und als Sophia aufwachte, erblickte sie nur Dunkelheit. Ein Vogel flog über die Schlucht und schrie, zuerst nahe und dann noch einmal, etwas weiter weg. Die Nacht war ruhig, aber das Meer war zu hören. Niemand ging durch die Schlucht, das Geröll bewegte sich aber wie unter Schritten. Das schützende Zelt hatte die Nacht ebenso nahe herangelassen, als ob Sophia im Freien geschlafen hätte. Andere Vögel riefen und riefen anders, und die Dunkelheit war voller fremder Bewegungen und Geräusche, solche, die niemand erklären oder bestimmen kann. Sie sind nicht einmal zu beschreiben.
»Lieber Gott«, sagte Sophia, »mach, daß ich keine Angst habe .« Und sofort begann sie nachzudenken, wie es ist, wenn man Angst hat. »Lieber Gott, mach, daß sie mich nicht auslachen, wenn ich trotzdem Angst bekomme .«
Sie lauschte, es war zum ersten Mal in ihrem Leben, daß sie wirklich lauschte. Und als sie aus der Schlucht kam, fühlte sie zum ersten Mal den Erdboden an den Sohlen und Zehen, ein kalter, körniger und ein mühseliger Boden, der sich veränderte, wenn sie ging; Kies und nasses Gras und große glatte Steine. Manchmal strichen Pflanzen, so hoch wie Sträucher, gegen ihre Beine. Der Erdboden war schwarz, aber der Himmel
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