Sommerbuch
was peinlich war, zu verschweigen. Damit es nicht so zu merken war. Sie waren sich aber über die Villa völlig im klaren.
Jeder Mensch, der auf einer Insel wohnt, läßt hin und wieder den Blick über den Horizont gleiten. Man sieht die bekannten, leicht geschwungenen Linien der Felsplatten und die Seezeichen, die immer an der gleichen Stelle sind; das ruhige Bewußtsein, daß die Sicht klar ist, bestärkt einen darin, daß alles so ist, wie es sein soll. Die Sicht war jetzt nicht mehr klar. Sie wurde von einem großen Viereck gestört, von einer Villa, einem neuen und drohenden Landzeichen, einer Verletzung bei der Beobachtung des Horizontes, der so lange ihnen gehört hatte. Die anonyme Inselgruppe, die so lange die Schwelle ihrer Insel zum Meer hin gewesen war, hatte einen fremden Namen bekommen und seine Lagunen geschlossen. Und das Schlimmste von allem: Nun war es nicht mehr die Familie, die am weitesten draußen wohnte!
Zwischen ihnen und dem Herrn Direktor war eine knappe Seemeile. Vermutlich war er außerdem ein geselliger Mensch. Man mußte annehmen, daß er gern und viel Besuch hatte, eine große Familie, die das Moos von den Felsen rupfte, die das Radio spielen ließ und die sich unterhalten wollte. So was geschah immer häufiger, überall und auch weiter draußen auf den Inseln.
An einem frühen Morgen wurde das Blechdach aufgehämmert, ein großes, arglistig glänzendes Dach unter einer Wolke von kreischenden Möwen und Seeschwalben. Die Villa wurde fertig, die Bauarbeiter fuhren davon, und nun brauchte man nur noch auf den Herrn Direktor zu warten. Die Tage vergingen, aber er kam nicht.
Ende der Woche nahmen die Großmutter und Sophia den Fischerkahn und wollten eine kleine Fahrt machen. Als sie zu der Sandbank kamen, wo man Barsche fängt, entschlossen sie sich, zur Knecht-Klippe zu fahren, um nach Tang Ausschau zu halten; von dort aus, wenn man erst in der Lagune war, hinter der Knecht-Klippe, war es nur ein paar Ruderschläge bis zur Brandmöwe. Es gab keinen Landungsplatz dort, nur einen großen Kieswall. Mitten im Kies war eine große Tafel mit schwarzen Buchstaben:
»Privat. An Land gehen verboten .«
»Wir gehen aber an Land«, sagte die Großmutter; sie war wütend.
Sophia sah ängstlich aus. »Es ist ein großer Unterschied«, erklärte ihre Großmutter, »kein wohlerzogener Mensch geht an Land, wenn die Insel einem anderen gehört, auch wenn niemand drauf ist. Kommt aber jemand auf die Idee, ein Schild aufzustellen, dann tut man es! Weil es dazu herausfordert .«
»Natürlich«, sagte Sophia und erweiterte ihre Lebenserfahrungen in beachtlicher Weise. Sie machten das Boot an dem Schild fest.
»Was wir jetzt tun, ist eine Demonstration. Man zeigt seine Mißbilligung, verstehst du ?«
»Eine Demonstration«, wiederholte ihr Enkelkind und fügte liebenswürdig hinzu: »Hier wird es nie einen guten Landungsplatz geben .«
»Nein« ,pflichtete die Großmutter bei. »Und die Tür haben sie an der falschen Seite des Hauses. Die bekommen sie bei Südwestwind niemals auf. Und dort haben sie ihre Regentonnen. Haha. Natürlich aus Plastik.«
»Haha«, sagte Sophia. »Natürlich aus Plastik.«
Sie gingen näher an die Villa heran und fühlten, daß sich die Insel verändert hatte. Das Wilde war weg. Die Insel war niedriger geworden, fast platt, und zeigte ein alltägliches, beinah beschämtes Gesicht. Der Boden war nicht zerstört. Im Gegenteil. Der Herr Direktor hatte über das Heidekraut und das Heidelbeergestrüpp breite Transportbrücken bauen lassen, er war mit dem Boden vorsichtig gewesen. Die grauen Wacholderbüsche waren nicht abgesägt. Aber die Insel war trotzdem platt geworden, weil sie mit einem Haus nicht zusammenpaßte. Dicht dran war die Villa ziemlich niedrig, als Zeichnung war sie vermutlich hübsch gewesen. Sie wäre auch überall hübsch gewesen, nur hier nicht!
Sie gingen die Terrasse hinauf. Unter der Traufe hatte er einen geschnitzten Spruch mit dem Namen des Hauses angebracht »Villa Brandmöwe«; hübsch getischlert, glich er den schnörkeligen geographischen Bezeichnungen, die man auf alten Karten findet. Über der Tür hingen zwei neue Schiffslaternen und eine Dragge ; auf der einen Seite hatte er eine frisch angestrichene rote Boje und auf der anderen eine Menge künstlerisch wohlangeordnete Schwimmer aus Glas.
»So ist es anfangs immer«, sagte die Großmutter.
»Vielleicht lernt er .« — »Was ?« fragte Sophia.
Die Großmutter überlegte einen Augenblick
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