Sommerfalle
fallen. Zuerst purzelten die Süßigkeiten und die Wasserflasche heraus, dann ein Sweater, ein weiteres Paar Handschellen, mit Schlüssel, ein Buch, ein weißes Briefchen Zündhölzer ohne Aufdruck und eine Fotoversandtasche. Letztere war an E. J. B. adressiert.
E. J. B., nicht Mike Sylver. Vielleicht waren das aber auch nur Tarninitialien, die er benutzte. Rebecca stellte keine Verbindung zu dem seltsamen Klassenkameraden her, der sie ihre ganze Schulzeit hindurch angehimmelt hatte.
Sie öffnete das Kuvert und entdeckte weitere Fotos jüngeren Datums. Darauf ging sie alltäglichen Dingen nach. Diesmal hatte der Fotograf ein Teleobjektiv benutzt und ausschließlich Nahaufnahmen gemacht.
Na gut, sie würde die Bilder mitnehmen als Beweismaterial. Sie zog das Sweatshirt an, das praktischerweise eine Kapuze hatte. Das war gut bei dem Regen. Die Handschellen? Nutzlos. Süßigkeiten? Ja. Wasser? Als Beweis. Zündhölzer? Klar. Buch?
Sie schlug die erste Seite auf und stellte fest, dass es kein gedrucktes Werk, sondern ein handgeschriebenes Tagebuch war. Ein weiteres Beweismittel, dachte sie und stopfte es zu den übrigen Sachen. Dann sah sie sich um und überlegte: Was noch? Die Waffe natürlich, die würde sie ganz obenauf packen. Das Küchenmesser? Ja. Schere? Warum nicht? Mehr Essen? Sie schnappte sich den Laib Weißbrot. Es war leicht, ließ sich gut zusammendrücken und würde für eine Weile reichen.
Ihr fiel das Kleingeld im Schlafzimmer ein. Es war nicht viel, aber vielleicht schaffte sie es zu einem Münztelefon, bevor Mike-E.J.-der Perverse sie wieder fasste. Sie ging ins Schlafzimmer zurück und steckte das Geld ein. Der Autoschlüssel wirkte so verlockend, dass sie ihn auch noch in die Tasche ihrer feuchten Khakihose schob. Dabei bemerkte sie gar nicht, dass sie den Schlüssel der Hütte auch noch eingesteckt hatte.
Die Tennisschuhe waren nach wie vor nass, und sie wünschte sich Socken. Da fiel ihr ein, dass sie die Kommodenschubladen gar nicht geöffnet hatte, also lief sie eilig wieder zurück. In der obersten Lade fand sie Socken.
Sie nahm sich ein dunkles Paar, kehrte rasch in die Küche zurück, zog Socken und Schuhe an, die sie mit einem Doppelknoten zuband. Danach hielt sie einen Moment inne, um zu lauschen, anschließend schlich sie an jedes Fenster und spähte vorsichtig hinaus. Ihr Herz raste, und jeder Muskel ihres Körpers war angespannt. Sie schob den Stuhl weg, den sie unter den Türknopf geklemmt hatte, und öffnete die Haustür. Draußen setzte sie sich den Rucksack auf und schloss die Tür leise wieder.
In der Ferne donnerte es noch immer, sicher würde es noch länger regnen. Egal, Rebecca trat ans seitliche Geländer der Veranda und kletterte hinüber. Sie sprang ins Unkraut und versuchte so, Spuren zu vermeiden. Rasch suchte sie Deckung im Schutz des Waldes neben der Zufahrt und rannte dann weiter in Richtung des unbefestigten Wegs. In der Luft hing ein seltsamer, irgendwie elektrischer Geruch, der stärker war als der frische Duft des Regens.
Edward bog in die Zufahrt ein und hielt gleich danach an. Die Scheibenwischer vollführten in der niedrigsten Geschwindigkeit eine hypnotische Bewegung. Es regnete nicht mehr ganz so heftig, aber der Donner kündigte schon den nächsten Guss an. In Michigan war das Wetter einfach unberechenbar.
Edward war inzwischen richtig ins Immobiliengeschäft eingestiegen und erwog, eine Gegend rund um einen kleinen See auf der oberen Halbinsel zu erschließen. Dort waren Grundstücke erheblich billiger, und da es auf dem Markt für Ferien- und Wochenendhäuser südlich der Mackinaw Bridge langsam eng wurde, vertraute er ganz naiv darauf, dass die Gegend nördlich der Straits zwangsläufig an Attraktivität gewinnen würde. Dann würden sich seine Investitionen erst so richtig rentieren. Gerade hatte er einhundertvierzig Morgen mit einem Häuschen darauf erstanden, eine Autostunde Richtung Norden entfernt. Das würde sein nächstes Etappenziel mit Rebecca sein. Er musste sie nur irgendwie ins Auto bringen. Er würde sie nicht gern wieder betäuben müssen, aber bis sie das Tagebuch nicht gelesen hatte, würde sie vielleicht nicht kooperieren.
Er stellte den Scheibenwischer auf ein kürzeres Intervall um. Der Regen prasselte jetzt wieder stärker auf die Windschutzscheibe. Die Geräusche des Gewitters sollten sein Motorengeräusch inzwischen übertönen. Also nahm er den Fuß von der Bremse und fuhr mit nicht einmal fünf Meilen pro Stunde
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