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Sommerfest

Sommerfest

Titel: Sommerfest Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frank Goosen
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stellt Stefan erfreut fest, dass die alten, in der Kindheit antrainierten Reflexe noch immer funktionieren. Nur die Beleidigungen gegen die Mutter des Angreifers haben noch gefehlt. Na gut, es kann sein, dass diese minderjährigen Straftäter jetzt ihre Schnappmesser zücken und ihn filetieren, wie sie es in einem der Horrorvideos gesehen haben, die sie zweifelsohne tagtäglich konsumieren, aber dann stirbt er wenigstens als Mann und nicht als Schauspieler.
    »Ja, ja, is ja gut!«, sagt Don Quichotte, tritt theatralisch zwei Schritte zurück und hebt die Hände. »War nur Spaß, ey, ehrlich.«
    »Nicht so gemeint!«, assistiert Sancho Panza.
    »Aber, Alter, ey, sach mal, hast du wenigstens’ne Kippe?«
    »Tut mir leid«, sagt Stefan mit echtem Bedauern, »ich rauche nur passiv.«
    »Ey, macht nix, ist cool, mach gut, nä? Und Gruß zu Hause!«
    Damit schlurfen sie davon, und Stefan betritt den Hausflur.

    Er kennt solche Hausflure von früher. Hier jagen sich schon keine Staubmäuse mehr über die Treppenabsätze, sondern regelrechte Staub ratten. Das Linoleum auf den Stufen ist mit Brandlöchern übersät, die meisten Plastikstopper an den Stufenkanten sind abgerissen und liegen herum, als warteten sie darauf, wieder montiert zu werden, was aber etwa so wahrscheinlich ist wie ein Sitzplatz im Regionalexpress morgens um halb acht. Jeweils auf halber Treppe sind die kleinen Kabuffs, in denen sich ganz früher mal die Toiletten befanden, jetzt fehlen nicht nur die Kloschüsseln, sondern bisweilen auch die Türen, während die Räume selbst zu Sperrmüllhalden mutiert sind. Die Fenster auf den Treppenabsätzen sind in einem ähnlich jämmerlichen Zustand wie jene, die man von der Straße sieht, die weiße Farbe sagt schon lange leise »Tüss«, und durch die Scheiben geht der eine oder andere Riss.
    »Was ist?«, ruft Toto Starek aus dem dritten Stock. Und als Stefan näher kommt: »Musstest du dich noch mit der Dorfjugend gemein machen?«
    »Wo ist der Schrank, Toto? Ich will hier so schnell wie möglich wieder weg.«
    »Ja, ja, stell dich mal nich so an!«
    Er holt einen Schlüssel aus der Hosentasche und schließt die Tür auf, vor der sie stehen. Sie betreten eine Wohnung, deren Zustand mit dem des Treppenhauses korrespondiert, nur gibt es hier kein Linoleum, sondern feinste Baumarkt-Auslegeware für 3 Euro den Quadratmeter, allerdings angeschafft und verlegt lange bevor es den Euro gab. Verlegt ist auch nicht das richtige Wort, denn das impliziert fachgerechtes Zuschneiden und Fixieren am sauberen Untergrund, hier aber hat man die Teppichstücke offenbar so Pi mal Daumen von der Rolle gerissen und auf den Bodengeknallt. Die Ränder sehen aus, als wären sie nicht abgeschnitten, sondern zurecht gebissen worden.
    An den Wänden jedoch hängt eine erstaunlich akkurat verklebte Tapete, wenn deren Muster auch nicht gerade als dezent zu bezeichnen ist: geometrische Muster in einer Farbe, die mal grün gewesen sein mag, auf einem Untergrund in Nikotinocker. Abgesehen von diversen Kleinteilen auf dem Boden (Schrauben, Nägel, der Deckel eines Marmeladenglases, eine leere Coladose) ist die Wohnung leer.
    Toto Starek führt ihn in den Raum, der früher das Wohnzimmer gewesen sein muss, und sagt: »Da ist das gute Stück!«
    Das gute Stück ist eine veritable Schrankwand aus den Sechzigerjahren des zwanzigsten Jahrhunderts. So eine ähnliche hat bei Omma Zöllner gestanden, der Mutter von Stefans Vater, die immer ein etwas kühler, wortkarger Gegenpol zu Omma Luise gewesen ist. Hinter den oberen Türen der Schrankwand lagerte sie das »gute« Geschirr, das nur zu hohen Feiertagen und runden Geburtstagen hervorgeholt wurde. In den offenen Fächern in der Mitte drängelte sich allerlei Nippes, also Engelchen, Schälchen, Figürchen und in der Mitte eine beleuchtbare Venezianische Gondel – was auch wieder ein Klischee war, aber irgendwo müssen die ja auch herkommen, die Klischees. In den unteren Fächern hortete Omma Zöllner lauter Papiere und Dokumente, also Familienstammbuch, Kontoauszüge oder Rentenbescheide, außerdem Kisten mit Hunderten von alten Fotos, die »bei Gelegenheit« mal in Alben hätten eingeklebt werden sollen. Besonders hat Stefan als Kind das große Fach auf mittlerer Höhe ganz rechts fasziniert. Da versteckte sich hinter einer Klappe die Hausbar mit dengrünen, blauen, ja sogar violetten Bechern aus mattem Eloxal. Und natürlich eine Kollektion erlesener Spirituosen, von Mariacron bis Weizenjunge, da

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