Sommerfest
Karl-Heinz Rogowski, Dieter Mehls und all die anderen.
Und Omma Luise. Die Frau, die alles mitgemacht hat. Einen Mann, den sie nicht so sehr geliebt hat wie einen anderen, mit dem sie aber trotzdem fast fünfzig Jahre verheiratet war. Bis dass der Tod sie schied. Genauso wie von ihrer Tochter. Die Scheiße, die man Leben nennt.
Und Charlie. Charlotte Abromeit. Die Enkelin des Masurischen Hammers , des alten Kirmesboxers, der großen Liebe von Luise Borchardt, geborene Horstkämper. All diese Geschichten, die man eigentlich aufschreiben müsste, aber eigentlich ist ein großes Wort, das größte vielleicht überhaupt, weil es immer zwischen dem steht, was man tut, und dem, was man tun sollte. Aber das, was man tut, ist nun mal das, was einen am Leben erhält. Das, was man tun sollte, lenkt einen ab und bläst einem Wolken in den Kopf. Als Kind glaubt man, dass man aus einem Flugzeug springen könnte und die Wolken einen auffingen. Alles Quatsch. Du hast ein Haus zu verkaufen, denkt Stefan.
Das Haus.
Der Termin mit dem Makler.
Stefan nimmt sein Telefon aus der Hosentasche. Es war [159]natürlich der Makler, der vorhin versucht hat, ihn zu erreichen, nicht Anka.
Er steckt das Telefon wieder weg. Jetzt ist es auch egal, den Makler ruft er später noch mal an, auch wenn er nicht weiß, was das bringen soll, der wird sich nicht am Sonntag mit ihm treffen, der Makler, nicht für ein heruntergekommenes Bergarbeiterreihenhaus mit niedrigen Decken. Also muss er einen neuen Termin machen und wieder hierherkommen, dann aber heimlich, damit er niemandem über den Weg läuft, von niemandem verhaftet und verurteilt werden kann, zu Bier und Sprüchen und Erinnerungen. Wenn er am Montagmorgen nicht in München ist, ist er arbeitslos und dann kann er sich auch selber Guten Morgen sagen, wie das echte Leben.
Was tun?
Erst mal wieder auf das Spiel konzentrieren, beziehungsweise auf das Bier, das Dieter Mehls ihm völlig überraschend in die Hand drückt. Das wird jetzt aber ein bisschen viel, denkt Stefan, es ist ja nicht mal richtig Abend, wo soll das alles noch hinführen. Aber Dieter Mehls sagt »Auf unseren Murat«, und da muss natürlich mitgetrunken werden, denn der Murat ist einer von uns.
Und dieser Einervonuns hat jetzt wieder den Ball, kurz hinter der Mittellinie. Er wird nicht angegriffen, vielleicht, weil der Gegner meint, dass es ja eh keinen Sinn hat, also geht er ab, Richtung Strafraum, lässt den dann doch halbherzig auf ihn zustrebenden defensiven Mittelfeldmann der TuS stehen und zieht weiter Richtung Tor. Die anderen können stehen bleiben, das spürt man gleich, den hier wird er alleine machen. Einen wenigstens muss er raushauen. Einmal muss er zeigen, was wirklich Sache ist. Wenn er nicht so wäre, wäre er nicht da, wo er ist, der Murat. Er wird sie jetzt alle der Reihe nach stehen lassen und dann dem Torwart den Ball durch die sprichwörtlichen Hosenträger spielen oder ihn umkurven und lässig einschieben. Mal ehrlich, dafür sind die Leute doch gekommen, das wollen sie sehen, die kleinen Genialitäten, die Kabinettstückchen, damit sie sagen können: Als der vier war, da hab ich den noch nass gemacht, aber danach war Ende Gelände.
Und als die Menge schon raunt und den Geräuschpegel in einer schönen Kurve anschwellen lässt, rückt der Einsneunzig-Mann aus der Innenverteidigung heraus, nimmt Fahrt auf, mit einer Entschlossenheit, die nicht anders als wild zu nennen ist, und was dann kommt, sieht man sonst nur auf Youtube: Wie einer fast abhebt, das Bein gestreckt, kein Auge für den Ball, nur für den Gegner. Später werden sich alle an das Geräusch erinnern. Und froh sein, dass es niemand gefilmt hat, weil man es dann nicht noch mal sehen muss. Und sich ärgern, dass niemand es gefilmt hat, weil man dann vielleicht Material für einen Prozess hätte.
Murat schreit. Bleibt liegen. Blickt auf seinen Unterschenkel. Schreit. Schlägt mit der flachen Hand auf den Kunstrasen. Der Hüne steht auf und geht weg. Mission erfüllt. Ein, zwei Sekunden reagiert keiner. Dann ist es Heinz Tenholt, der auf den Platz läuft und neben Murat niederkniet. Jetzt Stimmengewirr. Heinz Tenholt ruft irgendwas. Karin läuft los. Sie ist Ärztin, Orthopädin sogar. Jetzt reagiert die Mannschaft. Drei, vier Mann sind bei dem Hünen. Rudelbildung. Man stößt sich gegenseitig vor die Brust. Die Lage wird unübersichtlich. Murat schreit noch immer, aber das geht unter.
Ein Krankenwagen, heißt es. Wir brauchen einen
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