Sommerfest
Momentes begreifen zu können. Das gibt’s nur einmal, das kommt nie wieder. Stefan empfindet Neid gegenüber den Jungen, die das alles zum ersten Mal erleben. Auch Überlegenheit, weil sie nicht wissen, nicht wissen können, wie groß ihr Leben gerade ist und dass es, wahrscheinlich, danach immer kleiner wird.
Er muss an die Abende mit Charlie auf irgendwelchen Parkbänken denken, manchmal mit den anderen, eine Flasche Wein dabei, die man kreisen ließ wie einen Joint. Und an die Abende mit Diggo und Toto, mit Bier von der Tanke. Da wurde in die Büsche gepinkelt, da wurden Leute angepöbelt, da wurde in Hauseingänge gepisst, und Stefan wusste, dass das falsch war, aber er konnte sich nicht davon losreißen. Diggo, wie er Dinge zertrümmerte, einfach, weil er nicht wusste, wohin mit sich. Toto, der dazu lachte, weil er sowieso nichts wusste. Und Stefan, der sich das alles ansah, weil … Ja, weil weil ein fast so blödes Wort ist wie eigentlich, weil einen Grund für alles zu haben doch der erste Schritt ins Grab ist, denn so lange du alles einfach so machst, bist du ein Kind, und dein Leben ist unendlich.
Wahrscheinlich auch Blödsinn.
Nur wenn Diggo und Toto richtig krumme Dinger drehten, war er nie dabei. Da hielten sie ihn raus. Weil sie ihn nicht verderben wollten? Nein, weil sie ihm nicht vertrauten. Leute zusammenschlagen, ihnen das Geld abnehmen, Selterbuden und kleine Geschäfte in Essen, Gelsenkirchen oder Dortmund überfallen, in Schrebergärten einsteigen – das ging nur, wenn man einander vertraute. Diggo und Toto, Herr und Hund, Pech und Schwefel.
»Hast du mal wieder was von deiner Omma gehört?«, fragt Charlie, nachdem sie alle minutenlang geschwiegen haben.
Stefan meint in der Frage eine Spitze zu vernehmen, als wenn er sich zu wenig um Omma Luise kümmere. Weist er jetzt darauf hin, dass er zumindest regelmäßig mit Omma Luise telefoniert, ist das zu defensiv. Er will sich ja nicht in die Seile drängen lassen.
»Klar«, sagt er nur.
»Hat sie was über mich erzählt?«
»Was soll sie erzählt haben?«
»Mein ja nur.«
Jetzt sagen sie erst mal wieder nichts. Nein, denkt Stefan, er hat eigentlich nie länger mit Omma Luise über Charlie gesprochen. Was kann Omma Luise über Charlie schon wissen?, hat er sich immer gedacht. Wenn sie das Thema angesprochen hat, ist Stefan nicht groß darauf eingegangen. So was bespricht man nicht mit seiner Omma. Auch wenn er mal mit Frank Tenholt gesprochen hat, hat der zwar Charlies Namen ab und zu fallen lassen, aber das Thema ist jedes Mal ziemlich schnell durch gewesen. Wem war das Thema wohl unangenehmer, den anderen oder ihm selbst, fragt er sich.
Als Frank und Karin Tenholt ihn in München besucht haben, hat Anka mit am Tisch gesessen, und die hat ihn später am Abend gefragt, wieso er allen Bemerkungen über diese Charlie so konsequent ausweichen würde. Natürlichhat das Streit gegeben, weil Stefan das für Unsinn hielt, schließlich hatte er keinen Grund, diesem Thema auszuweichen, aber Anka hat gesagt, er sei da nicht ehrlich zu sich, was Stefan für einen so ausgemachten Quatsch gehalten hat, dass er vom Küchentisch, an dem sie ein letztes Glas Wein tranken, aufgestanden ist, um im Wohnzimmer den Fernseher anzumachen und dort sitzen zu bleiben, bis Anka ganz sicher eingeschlafen war.
Thomas Jacobi und Frank Tenholt reden jetzt, aber Stefan hört nicht zu, weil er gerade mal versucht, wirklich ganz ehrlich zu sich zu sein, und da muss er zugeben, dass Anka recht gehabt hat. Er hat über Charlie nichts hören wollen, nicht von Frank und Karin Tenholt und erst recht nicht von Omma Luise. Es ist, denkt er, wie wenn Kinder sich die Hände vor die Augen halten und glauben, das, was ihnen Angst gemacht hat, sei nicht mehr da, nur weil sie es nicht mehr sehen. Das mit Charlie, hat er sich immer wieder gesagt, ist vorbei, und vorbei muss vorbei bleiben, aber jetzt sitzt er hier und ist noch mal so richtig feste ehrlich zu sich, wie ein Kind, das die Hände von den Augen nimmt und dem Monster ins Gesicht sieht.
Das ist ihm jetzt aber ein bisschen zu viel Defensive, und deshalb sagt er: »Und du? Mal wieder mit deinem Oppa gesprochen?«
»Ich besuche ihn ständig. Ist schön da oben, wo er wohnt.«
»War er mal hier?«
»Kein einziges Mal, seit er weg ist.«
Männer, denkt Stefan. Wir sind doch alle gleich.
»Sollen wir noch was essen gehen?«, fragt Karin Tenholt.
»Bei Marek gibt es was«, sagt Thomas Jacobi.
Also gehen sie los, und
Weitere Kostenlose Bücher