Sommerfest
Siebenhundert Leute arbeitslos. Also nicht sofort, jedenfalls nicht der Jürgen, oder?«
»Nee, nicht sofort.«
»Der Jürgen war da der Letzte, der gegangen ist. Weil er die ganzen Zahlen hatte. Wegen seinem Controlling. Und die Zahlen waren wichtig für wen, Jürgen?«
»Den Insolvenzverwalter.«
»Genau den. Und dann war der Jürgen irgendwann alleine in dem Laden. In der Verwaltung, ganz alleine. Was hast du da jeden Morgen gesagt, Jürgen? Hast du mir doch mal erzählt!«
»Ich hab mir jeden Tag selber Guten Morgen gesagt.«
»War ja sonst keiner da, verstehst du? So, und dann hatte der Jürgen die Wahl, entweder sofort arbeitslos oder … oder was noch mal, Jürgen?«
»Auffanggesellschaft.«
»In eine Auffanggesellschaft. Zwanzig Monate lang. Und was haben die gemacht, Jürgen.«
»Nichts.«
Toto ist begeistert. »Genau, nichts! Da ist der Jürgen hingefahren, und die haben gesagt, hier haben Sie ein paar Internetadressen, aber eigentlich haben wir nix zu tun für Sie, keinen Job, gar nix. Weil wieso? Weil der Jürgen schon zu alt war. Wie alt warst du da?«
»Sechsundfünfzig.«
»Sechsundfünfzig. Ein scheiß Alter, um den Job zu verlieren, oder Jürgen?«
»Auf jeden Fall, Toto.«
»Jobs kriegten dann nur die Jüngeren. Die Älteren haben sie in bescheuerte Kurse geschickt und so. Aber Geld kam rein. Sechzig Prozent vom letzten Nettolohn. Da hat der Jürgen dann selber die Zeitungen gewälzt und hat sich beworben bis zum Erbrechen, weil er nicht rumsitzen kann. Wie ein Mensch zweiter Kategorie hat er sich gefühlt, der Jürgen. Das ist doch allen scheißegal, was so ein Mann mit sechsundfünfzig macht. Nach vierzig Jahren in derselben Firma! Waren doch vierzig Jahre, oder, Jürgen?«
»Genau ein Monat fehlte mir bis vierzig Jahre.«
»So, er bewirbt sich also und wird überall abgelehnt. Und was ist dann passiert, Jürgen?«
»Dann bin ich die Treppe runtergefallen!«
»Dreizehn Stufen! Mitten in der Nacht! Als er aufs Klo gehen wollte. Der war nicht besoffen, hat nur ’nen falschen Schritt gemacht und macht den Abflug dreizehn Stufen runter. Zack, zwei Lendenwirbel glatt durchgebrochen! Und da hat er noch Glück gehabt, weil der Bruch glatt war und keine Nerven kaputtgegangen sind, sonst würde der Jürgen jetzt im Rollstuhl sitzen. Drei Monate lag er komplett flach, kam also von der Auffanggesellschaft nicht in die Arbeitslosigkeit, sondern gleich ins Krankengeld. Und das war dreihundert Euro mehr als das Arbeitslosengeld! Hammer, oder?«
»Hätte ich gerne drauf verzichtet«, sagt Jürgen.
»Dann aber doch Arbeitslosengeld. Und weil der Jürgen schon so alt war, kriegte der noch zweiunddreißig Monate. Und durfte sich hundertfünfundsechzig Euro dazuverdienen. Hundertfünfundsechzig! Panne, oder? Dann vorzeitig in Rente, und bis er fünfundsechzig ist, darf er auch nur vierhundert Euro dazuverdienen, danach wieder mehr. Und wie viel hättest du mehr, wenn du noch arbeiten würdest?«
»Netto zirka tausend Euro.«
»Tausend Euro! Zieh dir das mal rein! Und der kann nix dafür! Der hat nicht gesoffen oder gezockt oder geklaut oder was weiß ich. Vierzig Jahre in derselben Firma und dann von jetzt auf gleich das Oberarschloch. So sieht das aus!«
»Leben live«, sagt Jürgen.
»Storys, ehrlich, wo du hinguckst!«, meint Toto. »Ich sag immer: Die liegen praktisch auf der Straße, die musst du nur aufheben!«
Wo er recht hat, der Starek-Toto, hat er recht, denkt Stefan, und dann steht Thomas Jacobi da, drückt Stefan ein Bier in die Hand und sagt, dass das Spiel weitergehe, also stellen sie sich wieder hinter die Barriere, ungefähr Höhe Mittellinie, und Stefan denkt, dass er mehrere Dinge gleichzeitig tun möchte: Jürgen ein Bier ausgeben oder am besten gleich ein ganzes Theaterstück über ihn schreiben und nebenher Charlie umarmen und das Gesicht in ihren blonden Locken vergraben und die Hände auf ihre Hüftenlegen, dorthin, wo ihr Körper diese Kurve macht, die fast wirkt wie eine Griffmulde. Warum ist das alles so schön und so schwer?
Und auch ein bisschen lächerlich. Was mache ich hier, denkt Stefan? Ich gehöre hier nicht mehr hin, bin umgeben von Geschichten, die schon lange auserzählt sind, ohne Pointe, aber ganz rund, kein offenes Ende, keine offenen Fragen. Toto Starek, der Versager. Diggo Decker, sein Herrchen. Frank Tenholt, der Statthalter. Karin Tenholt, die Verwirrmaschine. Thomas Jacobi, Berufsjugendlicher. Mandy, Provinzsirene. Heinz Tenholt, Klaus Dudek,
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