Sommerfest
auch mal so sehen: Das ist ein regelmäßiger Job, der nicht mal schlecht bezahlt ist und vielleicht ein Sprungbrett sein kann. Er wird sich einen Agenten zulegen und eine Mappe mit Bildern erstellen lassen, beziehungsweise eine Internetseite, so läuft das bestimmt heute, dann ist er da im Pool und wird demnächst auch mal für einen Tatort engagiert oder den Fernsehfilm am Montag im ZDF oder, wieso nicht, mal für so ein Eventmovie auf ProSieben oder sonst wo, dann erübrigt sich auch die Frage Muss man dich kennen?, beziehungsweise die ist dann ganz klar zu beantworten, und zwar mit einem kernigen Ja muss man! Von da zur Prominenten-Ausgabe von Wer wird Millionär? ist es ja dann nicht mehr weit, aber da wollen wir jetzt mal nicht übermütig werden, denkt Stefan, es ist nur einfach so, dass die Welt voller Möglichkeiten ist, wenn man erst mal durchblickt.
Bleibt das Problem mit der falschen Fahrspur. Für Stefan ist es kein Problem, über die Leitplanke zu klettern, seiner sechsundachtzigjährigen Omma will er das nicht zumuten, also geht er wieder zu ihr und meint, sie müssten nun noch mal zurück und dann die richtige Spur nehmen, aber das sieht Omma Luise nicht ein.
»Können wir nicht einfach hier drüberklettern?«
»Ja, schon, aber ich dachte, für dich wäre es einfacher …«
»Ach, ich latsch doch da jetzt nicht zurück bis Pusemuckel, wenn ich hier nur drüberklettern muss. He, Sie da!« Omma Luise wendet sich an einen hochgewachsenen Mann in einem blauen T-Shirt, auf dem das Autobahnsymbol von den einschlägigen Verkehrsschildern gedruckt ist, dazu die Nummer der Autobahn und ein lustiger Spruch, was ja nun den Gipfel der Albernheit darstellt, findet Stefan.
»Sie sind doch ein starker Mann, Sie helfen mir jetzt mal da rüber!«
»Kein Ding!«, sagt der Mann, dann packen er und Stefan die Omma an den Ellenbogen und heben sie mühelos über die Leitplanke. Stefan wundert sich, wie leicht Omma Luise ist, die hätte er ja fast allein drübergekriegt, und er fragt sich, ob sie schon immer so wenig gewogen hat, denn eigentlich wirkt sie einigermaßen kräftig, aber na gut, sie ist halt ziemlich klein, keine einssechzig, jetzt, wo sie auf die neunzig zugeht, vielleicht noch zwei, drei Zentimeter weniger, und dieser Umstand rührt ihn plötzlich, weil sie ihm für einen Moment nicht nur klein und leicht, sondern auch verletzlich erscheint. Sie hat immer so getan, als würde ihr das Leben nichts ausmachen, der Krieg, der sprachlose Mann, der manchmal nachts, im Dunkeln, Beschimpfungen gemurmelt hat, oder auch die unerfüllte Liebe zu einem Kirmesboxer. Augen zu und durch, was einen nicht umbringt, bringt einen nicht um, und überhaupt soll man sich nicht so anstellen.
Nur als ihre Tochter, Stefans Mutter, gestorben ist, da bekam das ganze Universum Risse.
Unter dem milchig sonnigen Himmel und zehn Meter über der Autobahn muss er an die Geschichte denken, wie Omma Luise am vierten November 1944 hochschwanger in den Keller musste, weil die Engländer kamen, um die Stadt in Schutt und Asche zu legen, und dass alle Häuser in der Straße zerstört wurden und alle Bewohner umkamen, nur die Familie Horstkämper nicht, weil ihre Kellerdecke gewölbt war und deshalb dem Druck standhalten konnte. Man ist immer nur einen Gedanken von solchen Sachen entfernt.
Sie gehen die richtige Fahrspur hinunter und stehen wenig später vor dem Tisch, an dem Frank Tenholt mit seiner Karin sitzt. Ach, aber die sitzen nicht nur da, nein, sie hat sich bei ihm eingehakt und ihren Kopf an seine Schulter gelegt, während er mit einer älteren Dame auf der anderen Seite des Tisches Fotos in einem Album ansieht. Sie sieht gar nicht verkatert aus. Ihr Mann trägt eine Sonnenbrille, und das wahrscheinlich nicht nur wegen des schönen Wetters.
Man begrüßt sich mit Hallo und Wie geht’s, macht die eine oder andere Bemerkung über den letzten Abend, die letzte Nacht, und allen dreien ist anzumerken, dass sie das Thema Charlie und Stefan aussparen, was auch das Beste ist, sonst müsste Stefan sie nämlich fragen, wieso verdammt noch mal sie ihm nichts von diesem Kind erzählt haben, sondern ihn in das berühmte offene Messer laufen ließen, aber das wäre der Stimmung und dem schönen Wetter abträglich, also Klappe halten. Er ist hier sowieso nur noch auf Abruf, morgen früh sieht alles ganz anders aus, ist die Welt endlich in Ordnung und nur noch der Himmel die Grenze und wenn nicht, ist auch egal, Hauptsache es herrscht
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