Sommerfest
Operation besser auszukurieren sind, wenn der Arbeitsplatz sicher ist und man nicht ein paar Wochen später wieder selbst auf der Leiter stehen muss, um sich einen Schraubenzieher so gründlichdurch die Hand zu jagen, dass er auf der anderen Seite wieder herauskommt, glücklicherweise ohne einen Knochen zu verletzen.
Er denkt an das Hochzeitsbild seiner Eltern. Sie waren so verdammt jung. So jung, dass man ihnen ihre Träume nicht verdenken konnte, Träume vom besseren Leben und einer offenen Welt, weil doch um sie herum auch alle davon redeten und danach handelten: flotte Musik und freie Liebe. Irgendwann dämmerte ihnen, dass es so doch nicht kommen würde, und dem Sohnemann dämmerte irgendwann, dass nicht jede Flasche Mariacron, die er von der Selterbude holen musste, wirklich verschenkt werden sollte, wobei es natürlich ein Unding ist, dass man ihm das Zeug überhaupt verkauft hat.
Eines Tages sagte seine Mutter, dass sie jetzt für zwei Wochen nach Wattenscheid ins Krankenhaus gehe, um davon wegzukommen. Dann hatte sie es tatsächlich für den Rest ihres Lebens im Griff. Nicht mal in dieser katastrophalen Zeit nach den Herzoperationen seines Vaters, als er wochenlang wie ein Kind brabbelte und danach nicht mehr richtig sehen konnte, hat sie wieder angefangen, und das gehört zu den großen Leistungen seiner Mutter, die Stefan nie gewürdigt hat. Das ist der dunkelste Fleck in seinem Leben, weil er das nie richtig gutmachen konnte, selbst wenn er ihr kurz vor ihrem Tod zumindest noch gesagt hat, dass er wisse, wie komplett er da versagt habe. Natürlich fängt er, als er daran denkt, wieder an zu flennen, aber heute ist eben Flenntag, da kommt es raus und kann nicht anders.
Er würde jetzt auch gern mit dem Fuß grüßend irgendwo gegentreten, aber stattdessen sagt er »Tschüss« und hebt die Hand, obwohl man das natürlich als denkender Mensch, Künstler noch dazu, nur ein paar Quadratmetern geharkter und bestellter Erde sagt, aber auf die ganze Rationalität ist jetzt einfach mal geschissen.
Dann geht er, ohne sich umzudrehen, in Richtung Stadt, und plötzlich wird ihm klar, dass ihn hier nichts mehr hält. Das Haus seiner Eltern? Das sind nur Steine. Was wirklich zählt, hat er im Kopf und woanders, im Herzen will man ja nicht sagen, weil es sich nach Schlagersender anhört, auf jeden Fall hat man es tief drin, das kriegt man nicht raus, egal, wo man sich aufhält, also muss man sich auch nicht zwingend da aufhalten, wo einem das alles eingebrannt worden ist, wie einem Rind im Wilden Westen das Brandzeichen, damit man immer weiß, zu welcher Herde es gehört. Der Rest ist Ballast, den es abzuwerfen gilt, schließlich hat er hier nur Vergangenheit, während da, wo er sich die letzten zehn Jahre meistens aufgehalten hat, wenigstens seine Gegenwart ist, wenn nicht sogar seine Zukunft. Die mag wenig glamourös sein, aber sie ist realer als alles, was er sich hier ausmalen kann.
Und Charlie hält ihn auch nicht mehr hier, aber das hat sie nie getan, da alles, was mit ihr zusammenhängt, ihn nur von hier wegtreibt. Man steigt nicht mit seiner Schwester ins Bett, und wenn man es doch tut, kann man hinterher nicht so tun, als sei nichts passiert. Nicht mit ihr zu schlafen wäre natürlich auch keine Lösung gewesen, weil es permanent im Raum gestanden hätte, wie Billy Crystal es in Harry und Sally ja schon auf den Punkt gebracht hat, einem Film, den Charlie und Stefan unabhängig voneinander so toll fanden, dass sie einander lange nicht davon erzählten, weil die Parallelen zwischen den Charakteren im Film und ihnen selbst zu frappierend waren. Nur läuft es bei ihnen nicht darauf hinaus, dass sie irgendwann wie die anderen Paare auf dem Sofa sitzen und die witzigeGeschichte erzählen, auf welch verschlungenen Wegen sie zueinandergefunden haben. Das, was Charlie und ihn miteinander verbunden hat, ist etwas für die Kindheit und die Jugend. Im frühen Erwachsenenalter wurde es schon schwierig, und heute ist es unmöglich, nicht zuletzt nachdem Charlie lebendige Fakten geschaffen hat.
Plötzlich fühlt er sich leicht, plötzlich ist alles klar. Die ganze Sache mit Anka ist auch nur so dumm gelaufen, weil er sich tief drinnen immer noch an die Vorstellung geklammert hat, irgendwann mit Charlie Nägel mit Köpfen zu machen, also praktisch Fleisch und Blut zusammenzutun und dann Halleluja und immerwährendes Glück. Ankas Bemühungen in den letzten Monaten hat er im Keim erstickt, und das tut ihm jetzt leid. Im
Weitere Kostenlose Bücher