Sommerfest
Gehen wählt er ihre Nummer, aber sie geht nicht ran, doch das macht nichts, Stefan hat endlich Klarheit. Am liebsten würde er jetzt gleich zum Bahnhof gehen und nach München, nein, nach Hause zurückfahren, aber zum einen hat er eine Fahrkarte mit Zugbindung gebucht, und zum anderen hat er Omma Luise versprochen, mit ihr zu dieser beknackten Autobahnsperrung zu gehen. Die Aktion ist ja ähnlich hirnrissig wie diese ganze Verklärung der Vergangenheit, der sie sich jetzt hier hingeben, diese Vergottung von Arbeit und Engstirnigkeit, dieses ganze Heimatgedöns. Da sollen sie doch mal froh sein, dass sie nicht so arrogant und selbstverliebt daherkommen wie die Münchener oder die Berliner oder die Kölner, aber nein, sie wollen sein wie alle anderen, was nichts anderes ist als ein offensiv ausgestellter Minderwertigkeitskomplex, und so was ist nie besonders attraktiv.
Wie klar der Blick auf einmal wird, denkt er, und das beschleunigt auch seinen Schritt, sodass er viel schneller als gedacht bei Omma Luises Residenz ankommt. Okay,denkt er, führe ich also die Omma einmal den Asphalt ein paar Hundert Meter hoch und ein paar wieder runter, dann treffe ich mich mit dem Makler, packe meine Sachen, und zur Not hänge ich mich vor die Glotze, bis mein Zug fährt.
Während Stefan vor dem Haus auf und ab geht, telefoniert er mit dem Makler, der ein großes Gewese darum macht, dass Stefan ihn gestern versetzt hat und dass er eigentlich keine Zeit habe, schon gar nicht am Sonntag, aber der Kerl scheint ein junger Schnösel zu sein, für den auch der Verkauf einer heruntergekommenen Bergarbeiterbude ein Schritt vorwärts in der Karriere ist, also siegt wie immer im Leben die Geldgier, und er lässt sich dazu herab, Stefan einen neuen Termin zu geben, ja, heute am Sonntag, am späten Nachmittag, vorher müsse er nämlich noch auf die Autobahn, das müsse man schließlich gesehen haben, er sei jetzt schon ganz begeistert.
Omma Luise sitzt im Eingangsbereich mit einer anderen Frau an einem Tisch, sie trinken Kaffee und lachen ein Lachen, für das der Ausdruck »kaputtlachen« erfunden worden ist.
»Ach, da ist mein Enkel!«, ruft Omma Luise und versucht, sich zu beruhigen, aber dann sieht sie ihre Tischnachbarin an, und beide müssen wieder lachen.
Stefan setzt sich dazu, muss grinsen und fragt, was denn so lustig sei.
»Das ist die Frau Winnowski«, sagt Omma Luise, »das ist so eine ganz verrückte Nudel.«
»Stimmt«, sagt Frau Winnowski und lacht wieder.
»Sing das noch mal!«, sagt Omma Luise.
»Ach nee«, wiegelt Frau Winnowski ab.
»Stell dich nich so an!«
»Na gut!«
Was Frau Winnowski dann singt, singt sie eigentlich nicht, es ist mehr so eine Art Sprechgesang: »Chamberlain, das alte Schwein, fuhr mit’m Pisspott übern Rhein. Kam er dann zum Deutschen Eck, schoss die Flak den Pisspott weg!«
Kaputtlachen. Und Stefan lacht mit.
»So, Frau Winnowski, jetzt ist aber mal Schluss mit lustig, mein Enkel holt mich ab, wir gehen ein bisschen auf der Autobahn spazieren.«
»Wenn Sie da mal keiner mit dem Pisspott überfährt!«, sagt Frau Winnowski und fängt wieder an zu lachen, für Omma Luise ist Showtime aber jetzt vorbei, also verzieht sie nur ein bisschen den Mund, nickt und zieht Stefan zum Fahrstuhl.
»Die weiß auch nicht, wann Schluss ist«, brummt sie.
Oben in der Wohnung nötigt Omma Luise Stefan noch einen Kaffee auf, der allerdings seit gut einer Stunde auf der Warmhalteplatte vor sich hin gedämmert hat, weshalb er jetzt bitter ist wie ein Winter in Russland. Stefan kippt besonders viel Milch in das Gebräu, nippt davon und gibt vor, der Kaffee schmecke. Dann sagt er, sie sollten sich doch noch kurz aufs Sofa setzen, er wolle ihr was zeigen.
»Ach du Schande!«, entfährt es Omma Luise, als sie das Foto sieht. »Da sind wir ja alle drauf. Der Willy und der Fritz und die Lieselotte, die Edith und der Hermann.« Sie macht eine Pause. »Und die Blagen«, fügt sie hinzu. Ihre Stimme stolpert. »Ich erinnere mich«, sagt sie weiter. »Das war ein Sonntag, wir waren alle zusammen unterwegs. Den ganzen Tag hat die Sonne geschienen, das war heiß wie nix, aber unten an der Ruhr ging es. Wir haben eine Decke dabeigehabt und Thermoskannen mit Kaffee, und dann kam so einer vorbei und sagte, er will uns fotografieren, aber die Decke sollen wir wegmachen. Dann hat der gesagt,du setzt dich dahin und du dahin, das hat bestimmt eine halbe Stunde gedauert. Aber wir hatten unsern Spass.« Spass spricht sie mit
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