Sommerfest
Richtung und Klarheit.
Karin bietet Omma Luise ihren Platz an, aber die meint, Karin solle nur sitzen bleiben, sie, Omma Luise, stehe hier ganz gut.
»Du fragst dich sicher, was der Ballon soll«, sagt Frank Tenholt.
»Ehrlich gesagt nein«, antwortet Stefan.
»Der stammt noch von der Aktion, als wir überall, wo früher eine Schachtanlage gewesen ist, einen gelben Ballon haben aufsteigen lassen. Mehr als dreihundert Stück. Unglaubliches Bild.«
Ja, nee, ist klar, denkt Stefan, vom Erinnern kriegen sie hier ja nie genug, das hat doch schon pathologische Züge. Ja, gut, er selbst stolpert auch ständig über die Vergangenheit, aber über seine persönliche, die schleppt man eben mit sich herum, da muss man doch nicht noch so ein Kollektivgedächtnis obendrauf packen, wer soll das denn alles schleppen! Mal abgesehen davon, dass doch alle froh sein können, dass der Himmel jetzt so schön blau ist und die Bäume so schön grün und dass man den Kindern soeinen Begriff wie Staublunge schon gar nicht mehr erklären kann.
Die ältere Dame, die registriert hat, dass sie nicht mehr beachtet wird, steht auf und geht weiter. Omma Luise nimmt ihren Platz ein, wahrscheinlich weil mit dem guten Stehen jetzt auch mal gut ist.
»Gibt’s hier eigentlich auch was zu trinken?«, fragt Omma Luise.
»Sie haben die Wahl zwischen Kaffee, Wasser und Bier«, antwortet Frank Tenholt.
»Bei dem schönen Wetter nehme ich mal ein Bier.«
Frank Tenholt holt eine Flasche, die aussieht wie frisch aus der Werbung, so schön wie die Tropfen außen abperlen, aus der Kühlbox zu seinen Füßen und reicht sie ihr. »Einen Becher dazu?«
»Muss nicht.«
Omma Luise trinkt aus der Flasche und lässt sich dann von Frank Tenholt erklären, was er hier macht, schließlich ist das hier nicht nur ein Picknick, sondern eine kulturelle Aktion, also setzt er ihr auseinander, dass er alte Fotos aus seinem Museum mitgebracht hat und dazu gerne die entsprechenden Geschichten erzählt, was sich ein wenig alibimäßig anhört und es wohl auch ist. Omma Luise findet das gut und fängt an, das Album durchzublättern, das die ältere Dame aufgeschlagen liegen gelassen hat.
»Riesenstimmung«, sagt Frank Tenholt. »Es ist wirklich unglaublich! So friedlich und fröhlich! Wir müssen unbedingt nachher losziehen und uns ein bisschen was ansehen, da wird ja so viel geboten! Und das Wetter spielt auch mit, ich bin ganz entzückt!«
Was Frank Tenholt sagt, zieht irgendwo in der Ferne an Stefan vorbei. Das Strangulieren der Zeit ist eine nochhärtere Aufgabe, als er dachte. Wie schön wäre es, jetzt im Zug zu sitzen, mit einem Krimi aus der Bahnhofsbuchhandlung, den man bis kurz vor München durchhätte, um dann, nach einer höchstens zwanzigminütigen Taxifahrt in Ankas Arme zu sinken, sie wortlos ins Schlafzimmer zu drängen und auszuziehen. Er bemüht sich, diesen Gedanken nicht zu vertiefen, da Karin und Frank Tenholt heute eine Innigkeit ausstrahlen, die Stefan mehr berührt, als er zugeben möchte, ihn vor allem aber neidisch macht.
Plötzlich fährt auf der Fahrradspur ein Tandem vorbei, auf dem eine Frau und ein Mann in Fußballtrikots sitzen, die Frau in einem von Schalke 04 und der Mann in einem von Borussia Dortmund, und Stefan fragt sich, ob das nicht ein bisschen viel Verbrüderung ist und ob das überhaupt echt ist oder die beiden sich eigentlich gar nicht für Fußball interessieren, heute aber mal ein Zeichen der Einigkeit setzen wollen, was ja nun der Gipfel der Albernheit wäre, aber wenn Stefan ehrlich ist, weiß er gar nicht, wieso er diesen Leuten erst mal das denkbar Schlechteste unterstellt.
Frank Tenholt sagt: »Also wir sollten uns auf jeden Fall ein bisschen was angucken, hier ist jede Menge los, das kann man sich nicht entgehen lassen.«
Dann kommen Mandy und Thomas Jacobi angeschlendert, sie in einem kurzen Rock und einem roten Tank-Top, er in Jeans und schwarzem AC / DC – T-Shirt, beide tragen Sonnenbrillen, es ist ein herrlicher Tag. Man begrüßt sich, und Frank beschwert sich, dass Mandy und Thomas nach der langen Nacht so beneidenswert frisch aussehen.
»Wir sind von Wattenscheid hier rübergelaufen«, sagt Thomas Jacobi, »und da hinten läuft einer rum, der sucht eine Frau, in die er sich heute Morgen verliebt hat, aberjetzt findet er sie nicht mehr. Der ist völlig verzweifelt, wird hier bestimmt gleich aufschlagen.«
»Wir haben gerade überlegt«, sagt Frank Tenholt, »dass man mal los sollte, um sich ein bisschen
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