Sommerfrost - Die Arena-Thriller
dami t interessant zu machen glaubte ? Leander musterte sie. Was dachte er ? »Hast du ein bisschen Zeit?«, fragte er . »Ja, klar!«, sagte sie schneller als beabsichtigt . Sie folgte Leander zu einer niedrigen Mauer, die einen Oran genbaum umgab, und setzte sich neben ihn. Sie spürte, wie ih r Herz schneller klopfte und sie feuchte Hände bekam. Lyra, rei ß dich zusammen, ermahnte sie sich . »Hör mal, ich habe nachgedacht«, sagte er und sah sie mit seine n blauen Augen an, in die gerade eine blonde Haarsträhne fiel . »Und worüber?«, fragte Lyra . »Iss dein Eis, sonst schmilzt es noch! « Tatsächlich hatte sie ihr Eis beinahe vergessen. Die Schokola denkugel tropfte schon. Hastig leckte sie an der Waffel und a n ihren Fingern. »Mist! « Belustigt sah er ihr eine Weile zu. »Erinnerst du dich, ich hab e das letzte Mal gesagt, dass du mir bekannt vorkommst. « Sie nickte. Das Eis war ihr jetzt lästig. Es tropfte immer noc h und ihre Finger klebten aneinander . »Heute Nacht ist es mir eingefallen«, fuhr er fort . »Ja?«, fragte sie und schaute ihn erwartungsvoll an . »Ja!« Er nickte bekräftigend und musterte sie, als wolle er si e zeichnen .
Lyra bemerkte, dass sie sich aufrechter hinsetzte. Sie wollte sich durchs Haar fahren, doch sie dachte gerade noch rechtzei tig an die Eistüte und die klebrigen Finger und hielt mitten in der Bewegung inne. »Und an wen erinnere ich dich?« Sie konnte die Neugierde in ihrer Stimme kaum unterdrücken. Seine Augen verengten sich. »Du hast eine Schwester, stimmt’s?« Sie starrte ihn an. Mit jeder Antwort hatte sie gerechnet, nur nicht mit dieser. Wie konnte er das wissen? Das wusste hier niemand, außer ihr selbst und ihrer Mutter – na ja, und Daniel und vielleicht noch eine Freundin ihrer Mutter. »Richtig?« Er sah sie forschend an und sie kam sich vor wie un ter einem Mikroskop. »Nein, ja, ich meine . . .«, stammelte sie. Warum musste er aus gerechnet so etwas sagen? Warum konnte er nicht sagen, he, du kommst mir deshalb so bekannt vor, weil du aussiehst wie irgendeine Schauspielerin oder wie... ach, es hätte auch seine Cousine sein können. Lyra bemerkte, dass das Eis an ihrer Hand herunterlief. Sie ließ es gerade noch rechtzeitig auf den Boden fallen, bevor es auf ihre Beine tropfen konnte. »Ich kenne deine Schwester«, sagte Leander, ohne ihren Kampf mit dem Eis zu beachten. Er saß noch genauso auf der Mauer und ließ die Beine baumeln wie vorhin. Sie musste sich verhört haben. »Was?« »Ich kenne deine Schwester«, wiederholte er vollkommen ruhig und lächelte ein wenig dabei. »Nein!« Das konnte sie nicht glauben. »Das kann nicht sein, das ist . . . das ist unmöglich!« »Aber wieso denn?« Nun grinste er. »Die Welt ist klein, viel klei ner, als man oft denkt! Pass auf: Sie heißt Viola, stimmt’s?« Sie nickte benommen.
»Und sie hat eine Schwester, die Lyra heißt. Ihr habt in Worms gewohnt und dein Vater ist Ingenieur.« Triumphierend sah er sie an. »Und, hab ich recht?« Lyra war sprachlos. Alles um sie herum kam ihr auf einmal weit weg vor, als wäre sie in Watte verpackt. Doch dieser Zustand dauerte nur einen Moment, dann brach die ganze Vergangenheit wie eine Lawine über sie herein. Die langen Tage des Wartens, der Ungewissheit, dann die Katastrophe, die Scheidung . . . »Ich... meine Schwester ist tot!«, brachte Lyra schließlich he raus. Er sah sie entsetzt an. »Aber das ist nicht möglich!« »Doch, es ist möglich!« Sie schrie beinahe. Leander zuckte ein wenig vor ihr zurück und runzelte nachdenklich die Stirn. »Aber sie heißt Viola, richtig?« »Sie hieß Viola. Sie ist tot! Seit zehn Jahren! Jemand hat sie über fahren und im Straßengraben liegen lassen«, schrie sie. Es kümmerte sie nicht, dass sich die Leute im Eiscafé nach ihr umdrehten. Viola, ihre Schwester, war vor zehn Jahren gestorben. Viola war damals fünfzehn, Lyra gerade mal fünf Jahre alt gewesen. Lyra konnte sich kaum noch an die große Schwester erinnern. Ihre Mutter sprach nie von ihr und in der Wohnung fand sich kein einziges Foto ihrer Schwester. Leander starrte auf den Boden und schüttelte den Kopf. »Das kann nicht sein«, murmelte er. »Doch. Es ist aber so!«, sagte sie trotzig, wütend darüber, dass leider sie und nicht Leander recht hatte. Obwohl alles schon so lange her war, hätte sie jetzt heulen können. Aber vor Leander wollte sie das auf gar keinen Fall. Langsam hob er den Kopf. Über seinen Augen lag ein Schleier. Er sah traurig
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