Sommerfrost - Die Arena-Thriller
im Gedränge zwischen den Ständen. Patrick seufzte. »So macht sie das immer. Echt öde!« »He, du findest es öde mit mir?« Lyra zog die Augenbrauen hoch. »Nee, ich meinte nur . . .« Er wurde für einen kurzen Moment ganz rot. Lyra grinste. »Komm, vielleicht finden wir ja was Spannendes?« Nicht nur Gemüse gab es hier zu kaufen, auch Kleidung, Stricksachen, Schuhe, CDs, Sonnenbrillen, Taschen, billiges Elektrozeug. Normalerweise langweilten Lyra diese Märkte, aber heu te taten ihr das Gewusel der Menschen und die bunte Welt des Krimskrams einfach gut. Plötzlich stieß Patrick Lyra an. »Ist das nicht der Scherenschleifer?« »Wo?« Patrick zog sie hinter einen korpulenten Mann, der gerade eine Trainingsjacke an einem Kleiderstand probierte. »Dahinten!« Unter einem Sonnenschirm war ein Moped mit einem Schleifstein aufgebockt. Zwei Araberinnen in langen Gewändern standen dort und warteten. Als sie sich umdrehten, gaben sie den Blick auf den Scherenschleifer frei. Er war klein, hatte einen dicken Bauch und eine Glatze. Lyra und Patrick seufzten gleichzeitig. »Und ich hätte schwören können . . .«, begann Patrick, doch Lyra hörte ihm gar nicht mehr zu. Im Gedränge des Marktes schob sich gerade ein Gesicht in ihr Blickfeld, das ihr bekannt vorkam. Diese junge Frau mit dem lilafarbenen T-Shirt und den langen Ohrringen, dem Pferdeschwanz – sie wusste, dass sie diese Frau kannte. Dann durchfuhr es sie wie ein Blitz und Lyra zog scharf den Atem ein. »Ist irgendwas?«, wollte Patrick wissen. »Ich . . . glaube . . .« Sie merkte, wie ihre Stimme zitterte. Es war unmöglich. Eine Einbildung. Eine Schimäre, sagte man nicht so, eine Fata Morgana? Es war egal, wie man dazu sagte, wenn man etwas sah, dass es dort gar nicht geben durfte. Diese Frau mit dem gebräunten Gesicht, dem natürlichen Lächeln, mit den »Hippie-Ohringen«, und dem »Hippie-T-Shirt«, wie ihre Mutter sicher sagen würde, sah aus wie ihre Schwester. Wie ih re Schwester aussehen könnte, mit fünfundzwanzig. Aber ihre Schwester war tot. »Ich bin gleich wieder da«, murmelte sie. »He, wohin gehst du?«, rief ihr Patrick noch nach, doch sie war schon losgeeilt, auf dieses Gesicht zu.
Wo war die Frau? Wo war Viola? Lyra kämpfte sich durch die Warteschlangen vor den Ständen. Ihr kam es vor, als versam melten sich immer mehr Menschen vor ihr, als hätten sie sich gegen sie verschworen. Sie stieß einer alten Frau in die Rippen, murmelte eine Entschuldigung, bekam einen Ellbogen ans Kinn, jemand trat ihr auf den Fuß, ein Korb rammte ihr Schien bein, aber sie ließ sich nicht aufhalten, sie musste dieses Ge sicht finden! Wo war es nur? Lyra blieb neben einem Tisch mit Sonnenbrillen stehen und suchte mit den Augen die Menge ab. Verdammt, eben war es doch noch da gewesen! Sie stürzte sich wieder ins Gewühle, irgendwo musste sie sein. Hatte sie nicht hier gestanden, gerade eben noch? »Ich bin vor dir dran!« Eine alte Frau sah sie böse an. Lyra versuchte, Patrick in der Menge ausfindig zu machen. Da sah sie ihn drüben am Café. Patrick winkte ihr. Gleich, gleich würde sie zurückkommen, aber war nicht da gerade das lilafar bene T-Shirt gewesen? Dort am Stand mit den Bergen von To maten? Sie drängte weiter durch die träge Masse, kassierte Knüffe und ärgerliche Blicke, doch als sie endlich vor dem Stand angekom men war, sah sie, dass das lila T-Shirt von einem jungen Mann getragen wurde. Verwirrt trat sie den Rückweg an. »Sag mal, was war denn mit dir los?«, fragte Patrick. »Ich habe gedacht, da wäre meine Schwester.« »Du hast eine Schwester?«, fragte er erstaunt. Sie wischte sich den Schweiß von der Stirn. »Ich hatte eine.« Er sah sie verstört an. »Das musst du mir erklären.« Die ganze Aktion kam ihr jetzt völlig unsinnig vor. Es war ein fach unmöglich, dass sie Viola hier auf dem Markt gesehen ha ben konnte. Viola war tot. Lyra holte Luft und dann erzählte sie ihm von dem Autounfall, bei dem Viola vor zehn Jahren ums Le ben gekommen war.
»Aber dann verstehe ich nicht, wieso du deine Schwester gese hen haben willst. « »Das ist eine längere Geschichte. « Er sah auf die Uhr. »Wir haben noch Zeit. Wenn meine Mutte r sagt, in einer Stunde, sind es mindestens anderthalb Stunden. « Wo soll ich anfangen?, fragte sie sich. Wie hatte das alles über haupt angefangen . . .? Mit Leander. Richtig . »Also, du kennst doch Leander. « »Den Superklugen, ja, den hast du mir vorgestellt. « Lyra ging nicht auf seine
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