Sommerfrost - Die Arena-Thriller
anderen Welt, das war doch reinster Quatsch! Sie hätte den blöden Zettel liegen lassen sollen. Andererseits... wenn es doch möglich wäre? Es gab ja wirklich die verrücktesten Sachen . . . Nachdem sie die Einkaufstüten ausgeräumt hatten, ging Lyra in ihr Zimmer, obwohl ihre Mutter noch etwas zu essen machen wollte. »Hab keinen Hunger«, sagte Lyra. »Aber du weißt, dass in der Nacht die DNA der Zellen repariert wird. Dazu braucht der Körper Eiweiß und ein paar Kohlenhydrate, damit man besser schläft!«, sagte ihre Mutter. Mir doch egal, dachte Lyra. Sollten die verdammten Zellen doch tun und lassen, was sie wollten, und gut schlafen würde sie sowieso nicht. Geräuschvoll ließ sie ihre Tür ins Schloss fallen. Bevor Lyra ins Bett ging, kramte sie den zerknüllten Zettel aus ihrer Hosentasche. Ob sie es einfach wagen sollte? Konnte ja nicht schaden. Und selbst, wenn sie dabei nichts erfahren sollte, war es ja vielleicht ganz lustig, sich diesen Hokuspokus mal anzusehen.
In der Nacht mischte sich die Szene aus dem Film in Lyras Träume und langsam, ganz langsam, stieg eine Erinnerung in ihr auf.
Fremde Männer und eine Frau sind in unserem Wohnzimmer, nein, sie sind überall in der Wohnung. In meinem Zimmer und in dem von Viola und in der Küche. Kaffeetassen stapeln sich auf dem Esstisch, grelle Lichter blitzen auf Blitzlichter. Es riecht nach Zigaretten-qualm. Irgendwann spüre ich Mamas Körper. Sie presst mich an sich. Sie hält mich so fest, dass ich kaum atmen kann. Ich schmecke Salz. Salzige Tränen. Mama weint. Papa steht neben ihr. » Wo ist Viola?«, schreie ich. Mama weint noch stärker, presst mich noch fester an sich, wiegt mich, flüstert: »Mein Kind, mein Kind, mein Kind . . .«
Dann rennen wir über die Straße. Mama hält mich auf dem Arm. Abe r es ist dunkel, ich sehe nichts. Ich habe etwas über dem Kopf ihre n Pullover. Er riecht nach ihrem Parfüm . Wo ist Papa ? Wir steigen ins Auto, Mama fährt los. Endlich sehe ich wieder etwas . Es ist gar nicht Nacht, sondern Tag. »Wir fahren zu Opa und Om a nach Ludwigshafen«, sagt Mama. »Warum, warum, warum komm t Viola nicht mit?«, heule ich . Keine Antwort . Später sehe ich in das Gesicht von Oma. Ihre Augen sind rot und si e schnäuzt sich in ein zerknülltes Taschentuch. Opa ist bleich und schüt telt nur noch den Kopf, murmelt: »So was, so was... « »Wo ist Viola? Und wo ist Papa?«, frage ich immerzu. Aber nieman d gibt mir eine Antwort .
Lyra riss die Augen auf. In erschreckender Klarheit waren die Bilder vor ihr abgelaufen. Nein, das war kein Traum. Das war die Wirklichkeit. Eine ver gangene Wirklichkeit. Sie versuchte, wieder einzuschlafen, aber es ging nicht. Also stand sie auf und ging in die Küche, trank ein Glas Orangensaft und tappte die Treppe wieder hinauf. »Lyra?«, hörte sie ihre Mutter aus dem Schlafzimmer rufen. »Was ist los?« »Ich kann nicht schlafen«, antwortete Lyra. Jetzt macht sie mir sicher gleich Vorhaltungen, dass ich selbst schuld bin, weil ich nichts gegessen habe, dachte Lyra. »Hast du schlecht geträumt?«, fragte ihre Mutter weiter. Lyra ging weiter den dunklen Flur entlang, zum Schlafzimmer ihrer Mutter. Ihre Mutter schaltete die Nachttischlampe an und kniff die Augen zusammen. Lyras Traum war ihr eben noch so real erschienen, doch jetzt in der grellen Helligkeit verblasste er wie ein Schatten in der Son ne . »Mama?«, begann sie dennoch . »Ja? « »Warum hatte ich deinen Pullover über dem Kopf und waru m waren da überall Blitzlichter... damals als Viola verunglück te? « Der Blick ihrer Mutter wurde starr. »Wieso . . .«, flüsterte ihr e Mutter, dann versagte ihre Stimme . »Es war kein Traum. Und als ich heute den Film gesehen habe , da . . . « Ihre Mutter setzte sich auf. Sie zögerte, dann sagte sie: »Ja, Ly ra. Du hast recht. Da waren Fotografen und Polizisten, es ga b sehr viel Medienrummel, als Viola damals umkam. Ich dachte , es wäre besser, wenn du alles vergessen könntest, aber da s hast du ja wohl nicht.« Sie seufzte . »Nein.« Lyra schüttelte den Kopf . »Ach, Lyra, wir können nichts mehr ändern. Aber nun weißt d u alles.« Sie seufzte wieder . Lyra musterte ihre Mutter. Nein, das war nicht alles . »Meinst du, du kannst jetzt wieder schlafen?« Ihre Mutter stric h ihr übers Haar . »Du sagst mir auch immer die Wahrheit, oder?«, fragte Lyra . »Aber sicher! « Das Lächeln ihrer Mutter war nicht echt . »Ich glaube dir nicht«, sagte Lyra und stand auf . »Lyra!
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