Sommergewitter
sie zusammen waren! Eher war Ginie alleinlosgezogen, um mal eben einen Rottweiler zu kaufen und unseren Dachboden als neuen Dancefloor publik zu machen. Verdammt, wäre ich doch mit ihr gegangen!
Wir durchkämmten den gesamten Waldsaum, zuerst den Streifen rechts des Trampelpfads, dann, nachdem wir schon viel weiter in den Wald eingedrungen waren, als man es üblicherweise täte, um mal kurz zu verschwinden, suchten wir in gleicher Weise die linke Seite des Weges ab.
Zwanzig Minuten später standen wir fast an der gleichen Stelle wie zuvor. Unten am Lagerplatz war Jonas noch immer allein.
»Ob wir sie mal rufen sollen?«, fragte Steffi.
»Ja.«
»Okay.«
Aber weder Steffi noch ich riefen. Dabei wäre es das Vernünftigste gewesen. Vielleicht war sie mit dem Fuß in einen Kaninchenbau getreten und umgeknickt, vielleicht lag sie irgendwo mit einem geschwollenen Knöchel hinter einem Busch, vielleicht war ihr wieder schlecht geworden, vielleicht war sie ohnmächtig, vielleicht waren wir an ihr vorbeigelaufen, ohne sie zu bemerken; vielleicht wartete sie seit einer Stunde – seit eineinviertel Stunden! – darauf, dass endlich einer von uns kam und sie fand.
»Also, wir rufen jetzt!«
»Ja.«
»Los!«
Wieder blieben wir stumm. Es war wie auf Geburtstagen, wenn niemand beim
Happy-Birthday -Singen
denAnfang machen wollte, oder beim Vorturnen, wenn sich alle zierten – nein, es war schlimmer. Wir wollten uns den möglichen Ernst der Lage nicht eingestehen. Beide vermieden wir es normalerweise, allein durch das Wäldchen zu gehen. Beide erschraken wir, als jetzt ein einzelner Mann auf dem Trampelpfad an uns vorüberging.
Bestimmt fünf Minuten brauchten wir, bis wir es endlich fertigbrachten, den Namen meiner Cousine in den Wald zu schreien. Eine Antwort kam nicht, nur Naturgeräusche: das Rätschen eines Eichelhähers, das Ticksen einer Amsel, das Summen einer Hummel.
»Vielleicht ist sie längst wieder unten am See. Vielleicht hat sie einfach nur ihre Tage und deshalb so lange gebraucht!«
»Soo lange braucht keine!«, sagte ich und: »Wir hätten sie nicht allein gehen lassen dürfen.«
»Ach Quatsch!« Steffi winkte rigoros ab, dabei dachte sie mit Sicherheit das Gleiche, denn sie war von Natur aus obervorsichtig, sie nahm ja abends nach ihrer Klavierstunde nicht einmal den Bus, sondern ließ sich stets von ihrem Vater abholen.
»Warum bin ich nur nicht mitgegangen?«, fragte ich mich laut. »Warum habe ich diesmal nicht daran gedacht, dass es gefährlich sein könnte? Warum hab ich mich so einschüchtern lassen? Immer passe ich auf und dann mache ich im entscheidenden Moment plötzlich solche blöden Fehler!«
»Mensch, Annika!« Steffi versuchte, mich zu beruhigen, sich selbst zu beruhigen. »Wir haben einfach nicht daran gedacht, wir . . . Meine Güte, ich . . . ich zum Beispielwar noch nie hier oben pinkeln, ich . . . ich mach immer heimlich in den See.«
»Bitte?«
»Ja. Sorry. Aber sag’s keinem.«
Ich gab keine Antwort, ließ Steffi stehen und hastete, ununterbrochen Ginies Namen rufend, erneut querfeldein. Dornen ratschten meine Arme und Beine auf, Fliegen umschwärmten mich, eine Zecke ließ sich auf meinen Oberarm fallen – ich wehrte alles ab, bahnte mir meinen Weg tiefer in den Wald hinein.
Steffi folgte. Nach einer Weile, wir waren ziellos herumgeirrt, rief sie: »Annika, warte, ich kann nicht mehr! Lass uns zurückgehen! Wenn sie dann immer noch nicht da ist, nehm ich mein Handy und rufe meinen Papa an.«
»Und was soll der machen?«, fragte ich im Laufen.
»Was sollen
wir
machen?«, rief sie mir hinterher. »So finden wir sie nicht!«
»Dann geh zurück. Ich suche allein weiter.«
»Nein!«
»Wieso nicht?« Ich blieb so abrupt stehen, dass sie fast gegen mich prallte. »Ich denke, du kannst nicht mehr.«
»Annika!« Steffis Stimme wurde leise, sie gewann ihre ruhige, überlegte Art zurück. »Wenn ihr etwas passiert ist, dann ist es besser, wir holen so schnell wie möglich Hilfe.«
Ich sah sie an, ihr hübsches, zartes Gesicht, die roten Wangen, der halb geöffnete Mund, die großen Augen.
Sie hatte natürlich recht. Steffi konnte in den See pinkeln, während wir alle darin badeten, und hatte immer noch recht, war immer noch das nette, vorbildlicheMädchen, das genau wie ich nie in einer Klassenarbeit schummeln oder durch gewagte Klamotten versuchen würde, gute Noten einzuheimsen. Plötzlich hatte ich das Gefühl, dass mich schon seit einiger Zeit etwas an
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