Sommergewitter
der kriegt nur keine, das macht ihm voll zu schaffen. Sogar deine Cousine ist gleich auf Jonas angesprungen und Rüdiger durfte Holz holen gehen, hast du das nicht gemerkt? Und deshalb, meine liebe Annika, verlegt Rüdiger sich lieber aufs Spannen!«
»Jetzt hör aber auf!« Energisch wischte ich mir die Tränen ab.
»Es stimmt aber!«, beharrte Steffi. »Svenja hat letztens mit Dennis in seinem Auto rumgeknutscht. Sie sind abends im Dunkeln den Weg zum Hiller-Bauern runtergefahren, bis zum Ende, da, wo die Autobahn entlangführt und alle Pärchen sich treffen. Und weißt du, wer da vorbeigekommen ist, als die beiden gerade beim Petting waren? Dreimal darfst du raten: Rüdiger!«
»Ja, und?«
Unsere Stimmen wurden lauter. Wir rückten auseinander.
»Er hat zugeguckt! Er ist vorm Auto stehen geblieben, sie hat’s erst gar nicht gemerkt, er stand in ihrem Rücken, aber Dennis hat ihn gesehen. Zuerst dachte er, Rüdiger würde von selbst weggehen, und hat sich nichts anmerken lassen, um Svenja nicht zu erschrecken. Nach einer Weile wurd’s ihm natürlich zu bunt, er hat das Fenster runtergekurbelt und Rüdiger angeschrien, er solle gefälligst abzischen.«
»Das war ein unglücklicher Zufall!«
»Meinst du? Gehst du da spätabends noch spazieren? Also ich nicht! Rüdiger rennt abends dauernd allein draußen rum. Angeblich will er nachdenken, aber ich wette, das stimmt nicht. Er ist vor dem Auto stehen geblieben, Annika! Normalerweise geht man doch weiter. Ich sag dir, er sucht die Stellen, an denen Liebespärchen sind, um da zu gucken! Genauso absichtlich, wie er ins Bad gekommen ist!«
»Das glaubst du ja wohl selbst nicht!« Ich war jetzt richtig wütend.
»Ich rede keinen Blödsinn! Rüdiger kann man nicht vertrauen, der treibt sich nämlich abends auch auf Friedhöfenrum. Ehrlich! Alexa hat er mal erschreckt, als sie spät noch mit dem Hund rausgegangen ist, und Tanja Weber auch. Frag sie doch, wenn du’s mir nicht glaubst! Mir glaubt ja eh keiner! Hab ich’s dir nicht gesagt vorhin: Mich halten eh alle für eine überspannte Zicke!« Steffi stöhnte erschöpft auf und verbarg ihren Kopf in den Händen.
Sie tat mir leid. Womöglich hatte sie recht. Nicht einmal ich war ja bereit, ihr zu glauben.
»Ich kann nicht mehr. Ich bin froh, dass es raus ist, aber ich bin ganz fertig!«
»Ach Steffi!« Ich wollte mich versöhnlich zu ihr herüberbeugen, als im gleichen Moment am Griff der Tür gezogen und kräftig an das Fenster geklopft wurde. Draußen stand, wie wenn man vom Teufel spricht, Rüdiger. Sein dunkles Haar war vom Regen völlig durchnässt, die Stirn gefurcht, der Mund rufend aufgerissen: »Macht auf!«
Steffi und ich starrten uns entsetzt an.
»Hat er gelauscht?«, fragte ich.
»Kann sein«, flüsterte sie kaum hörbar.
»Hey!« Rüdiger schlug gegen das Fenster. »Warum habt ihr euch eingeschlossen?«
»Annika!« Steffi ergriff meine Hand. »Bitte, lass ihn nicht rein!« Tränen liefen ihr die Backen herunter, sie zitterte.
»Steffi! Annika! Es regnet! Macht auf!« Rüdigers flache Hände klatschten gegen das Glas. »Was ist los? Seid ihr zu Salzsäulen geworden? Verdammt, was soll denn das? Macht die Tür auf! Ich bin total nass!«
Wir sahen uns durch die Scheibe an. Blätter hattensich in seinem Haar verfangen, Dornen sein Gesicht zerkratzt. Sein T-Shirt klebte ihm auf der Haut. Rüdiger. Nass, zerschrammt und sandig wie nach einem Kinderspiel. Der kleine Indianer. Der stille Junge, mit dem ich so viel zusammen erlebt hatte. War er nicht mein Freund?
Hatte ich nicht letztens, als er und ich eines Abends allein am See waren, behauptet: Wenn ich ihn dabeihätte, dann könnte mir nichts passieren?
Hatte ich es nicht sogar sehr gut gefunden, zu zweit unterwegs zu sein? Ohne den extrovertierten Jonas an seiner Seite war er nämlich richtig gesprächig gewesen.
»Steffi«, sagte ich, »wir spinnen. Wir kennen ihn doch.«
Aber stimmte das denn? Ich hatte keinen blassen Schimmer davon, dass er nachts allein durch die Gegend lief. Ich erfuhr ja sogar als Letzte, was im Silvesterurlaub passiert war. Wie konnte ich mich da auf mein Urteil verlassen?
Rüdiger wurde draußen immer verärgerter, er schlug weiter gegen die Scheibe, trat vor die Reifen, brüllte: »Sagt mal, erkennt ihr mich nicht mehr? Was ist los mit euch? Warum lasst ihr mich nicht rein?«
»Mach nicht die Tür auf«, flüsterte Steffi. »Bitte, warte auf die anderen.«
»Aber . . .«
»Steffi! Annika! Sagt mal, bin ich
Weitere Kostenlose Bücher