Sommergewitter
kämpfen, dann das Fenster einschlagen . . .«
»Du machst einen Denkfehler, Annika, du gehst immer von einem Fremden aus. Von einem der Spanner auf den Sandbergen. Von einem geilen Opa oder einem abgebrühten Serienverbrecher, der extra aus ’ner andren Stadt kommt. Aber man weiß manchmal gar nicht, wie die eigenen Freunde wirklich sind.« Sie spielte mit den abgerissenen Knöpfen. »Rüdiger hat diesen Urlaub vorgeschlagen. Rüdiger hat uns in diese Waldhütte gelockt. Rüdiger hat das alles eingefädelt. Er hat den Rodelberg ausgesucht, er hat gesagt: ›Der ist ungefährlich und harmlos. Ich kenne mich hier aus. Ich geb euch Schwung!‹ Von dem Bach da unten hat Rüdiger nichts gesagt! Vielleicht hat er’s Jonas verraten, mir nicht. Sonst wäre ich da nämlich nie und nimmer mit Jonas runtergefahren. Ich hab so Schiss gehabt, tausend Huppel waren in der Wiese, die wurd immer steiler und der Schlitten schneller und Jonas hat nicht die Bohne gebremst, obwohl ich mir die Kehle aus dem Hals geschrien hab. Er hätte auch lenken müssen, er hat schließlich vorn gesessen. Logisch, dass wir in den Bach gefallen sind!«
Ich hatte Steffis Schreien noch im Ohr. Wir waren sofort die Wiese hinuntergelaufen, um ihnen zu helfen.
»Jonas hatte Glück: nasse Jeans und blaue Flecke, mehr nicht. Ich bin zur Seite gekippt, lag sogar mit dem Gesicht im Wasser. Nur mein Fuß ist nicht mitgekippt,der steckte unterm Schlitten fest und ich hab richtig das Knacken gehört, als die Bänder gerissen sind. Das tat so weh, dass ich gar nicht protestieren konnte, als Rüdiger sagte, Jonas sollte mich zur Hütte zurückschleppen, ihr würdet noch ein bisschen draußen bleiben. Wieder war es Rüdiger! Er hat dich überredet, dass ich allein mit Jonas zurückgehen soll, als ob er’s geplant hätte!«
»Wir wollten eben das Schneewetter noch so lange wie möglich ausnutzen. Ja, ich hab dich von Jonas gestützt zur Hütte hinken lassen und dich nicht begleitet, aber es war ja nicht weit und ich dachte, dein Fuß sei nur verstaucht. Warum hätte es denn auch nicht in Ordnung sein sollen?«
»Weil . . .«
Plötzlich klingelte das Handy, das mein Vater auf dem Armaturenbrett liegen gelassen hatte. Steffi fuhr auf, rutschte auf ihren Sitz.
Ich ergriff das Telefon. »Ja?«
»Annika?« Es war meine Mutter. Sie klang kurzatmig. »Ist sie schon wieder aufgetaucht?«
»Nein. Papa und Paul suchen sie im Wald. Wir . . .«
»Hat Ginie irgendwas gesagt?«
»Gesagt? Nein, sie wollte in die Büsche, sie . . .«
»Wegen des Sees, wollte sie nicht an den See?«
»Weiß ich nicht, Mama, kann sein, ihr war heiß und sie wollte nicht schwimmen gehen, aber nachher gefiel’s ihr, glaub ich, ganz gut, sie hat sich mit uns unterhalten, Jonas und sie . . .«
In diesem Moment krachte ein zweiter abgerissener Ast auf die Motorhaube unseres Autos, Steffi schrie auf und auch meine Mutter hörte es.
»Annika, wo seid ihr? Ist alles in Ordnung?«
»Im Auto, ja, Mama, wir . . .«
»Sag deiner Mutter, sie soll kommen«, wimmerte Steffi.
»Im Auto sind wir doch sicher!«
»Nicht, wenn hier die Bäume umstürzen!«
»Mama? Was hat das mit dem See zu tun?«
»Nichts, Annika, lass jetzt. Passt auf euch auf. Ich ruf später noch mal an.« Sie legte auf.
Ein neuer Blitz zuckte über den Himmel und ich sah Steffis bleiches Gesicht.
»Was sollen wir machen?«, fragte sie unter Tränen. Sie beugte sich wieder zu mir herüber, verbarg ihr Gesicht in meinem Schoß.
»Erzähl mir von dem Tag in der Hütte«, sagte ich leise. »Was war mit dir und Jonas? Erzähl’s mir, dann geht das Gewitter auch schneller vorbei.«
»Ich weiß nicht, ob . . .«
»Wir können jetzt sowieso nichts für Ginie tun. Und hier hört uns keiner.«
»Ich brauchte Jonas’ Hilfe, als ich unter die Dusche wollte, ich konnte mich ja nicht mal alleine ausziehen.« Steffi sprach jetzt nicht mehr zu mir, sondern zu meinen Knien, und erzählte leise und nuschelnd, wobei sie eine längst abgelegte Angewohnheit aus Grundschultagen wiederaufnahm: Sie lutschte beim Reden an einer Haarsträhne. »Ich war genauso fertig wie jetzt. Mir war eiskalt. Mir tat der Fuß weh. Ich dachte, ich kipp um. Jonas musste mich stützen, deshalb kam er mit in die Dusche. Ich stand auf einem Bein, das Gesicht zu den Fliesen, eine Hand an den Wasserhähnen, eine auf Jonas’ Schulter. Er nahm sein Duschzeug, rieb es mir in dieHaare und den Rücken hinunter. Er scheint überhaupt kein Problem zu haben, dachte ich,
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