Sommergewitter
fährt.«
»Jetzt sei ruhig!« Jonas wählte eine Nummer.
»Und damals in der Hütte? Hat er da etwa nicht den Spanner gemacht?«
»Wie oft soll ich’s dir noch sagen, er ist zufällig reingekommen und es ist ihm heute noch peinlich. Du hast dich daran voll festgebissen, ich kenne . . . oh, hallo, Frau Plötz, Jonas hier, ist Michelle zu Hause?«
Ich drehte mich um, ging zurück und führte dabei in Gedanken Jonas’ unterbrochenen Satz weiter: ›Ich kenne dich kaum wieder‹, hatte er wohl sagen wollen. Oder drückte dieser Satz nur meine Empfindungen aus und Jonas hatte stattdessen sagen wollen: ›Ich kenne Rüdiger gut genug‹?
Michelle war noch nicht zu Hause, Lukas auch nicht. Dessen Vater gab uns seine Handynummer, aber nur die Mailbox sprang an. Wir hinterließen überall die gleiche Nachricht: Sie sollten sich sofort bei uns melden.
»Was ist mit Alexa?«, fragte Jonas.
»Sie weiß nichts, hat sich mal wieder mit ihrem Macker gezofft«, sagte Steffi in dem Moment, als auch Rüdiger gerade wieder das Wohnzimmer betrat. »Florian ist dann wohl beleidigt abgehauen. Alexa kommt gleich her.«
»Das wissen wir doch schon, dass die sich gestritten haben«, bemerkte Rüdiger. »Übrigens, Steffi, wenn Florian-Grobian zur Zeit von Ginies Verschwinden allein und wütend durch den Wald gelaufen ist, müsstest du ihn doch auch auf die Liste deiner Verdächtigen nehmen, oder nicht? Was sagst du dazu, Profiler?«
»Hier wird niemand verdächtigt«, sagte ich automatisch.
»Bist du dir da sicher?«, fragte Rüdiger.
Nein, das war ich mir ganz und gar nicht mehr.
»Annika, du musst Steffi nicht in Schutz nehmen. Eswird nicht besser dadurch, dass du versuchst, es schönzureden.«
»Ich verdächtige aber wirklich keinen, Rüdiger«, sagte Steffi überfreundlich. »Ich habe lediglich laut gedacht. Dein Verhalten ist mir einfach unheimlich. Das darf ich wohl sagen. Du sagst ja auch, was du denkst, und nennst den Freund meiner Schwester Florian-Grobian.«
»Das ist aber ein Spitzname, der von dir stammt«, warf Jonas ein.
»Ja, und? Der Typ wird bald mein Schwager, und wenn ich meine, ich müsste ihn so nennen, dann darf ich das auch. Andere dürfen das nicht!«
»Coole Logik.« Jonas verdrehte die Augen.
»So ist unsere Profilerin nun mal, selbstgerecht, wachsam und stets nur an der Sache orientiert!«, sagte Rüdiger, lachte und zeigte die Zähne.
Steffi kochte.
»O Mann, Leute, hört doch auf!«, sagte Jonas.
Ich hielt diesmal meinen Mund. Rüdiger hatte recht, die Freundschaft zwischen ihm und Steffi ging den Bach runter, es war kindisch, das zu leugnen.
Es klingelte an der Haustür. Zur rechten Zeit! Was ein Glück! Wir sprangen auf. Erlöst, erwartungsvoll, erfüllt von Hoffnung. Wir rissen die Tür auf, alle gemeinsam. Jetzt würde es endlich Neuigkeiten geben! Jetzt . . . Vor uns stand Alexa.
Einige Sekunden rührte sich niemand. Wir starrten uns an, als hätten wir uns noch nie gesehen. Die Erste, die die Sprache wiederfand, war naturgemäß Steffis Schwester.
»Was ist denn passiert? Ihr seht ja alle ganz furchtbaraus! Steffi, bist du in Ordnung? Annika, du sagst ja gar nichts! Was ist mit deiner Cousine? Wie hieß sie noch mal? Ist sie wirklich verschwunden? Wie schrecklich! Wahnsinn! Was es nicht alles gibt! Wann? Wo? Warum? Wie lange? Wo habt ihr gesucht? Wieso nicht da? Warum habt ihr mich nicht gleich angerufen? Wo sind deine Eltern? Was sagen die? Wen habt ihr gesehen? Was habt ihr gehört? Was habt ihr gemacht? Was jetzt? Was seid ihr denn alle so fertig?«
»Du redest zu viel, Alexa«, sagte Rüdiger lakonisch.
»Ich?«, rief sie. »Ich versuche mir nur ein Bild der Situation zu machen. Wo bist
du
denn eigentlich gewesen, als Ginie verschwunden ist?«
Rüdiger blinzelte. »Im Wald«, sagte er langsam, aber so, als spräche er es als Frage aus.
»Im Wald also«, wiederholte Alexa nachdenklich und in einem Tonfall, der nichts Gutes verhieß.
Stille. Wir standen in der Küche. Die Uhr tickte. Auf dem Wandkalender stand unter dem heutigen Datum mit roter Schrift: »Ginie kommt!« Ich hatte es selbst geschrieben. Vor zwei Wochen.
Steffi kaute an ihrer Unterlippe. Jonas hatte sich weggedreht und sah mit zusammengekniffenen Augen aus dem Fenster.
»Rüdiger sagt, dass er sie nicht gesehen hat, und das glauben wir ihm auch«, erklärte ich.
»Okay, okay«, wiegelte Alexa ab. »Ich glaub ihm das auch, Annika.« Sie machte eine Pause, lächelte. »Aber er war nicht die ganze Zeit im
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