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Sommerglück

Sommerglück

Titel: Sommerglück Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luanne Rice
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vorbeikamen, in denen Leute waren. Sie sagte es genauso beiläufig, als sei sie in der Schule, im Ferienlager oder im Urlaub gewesen. Annie schluckte und musterte Eliza, um zu sehen, ob sie Witze machte. Sie trug ein langes, eng anliegendes schwarzes Kleid mit einer künstlichen Rose, die mit einer Nadel am Mieder befestigt war, und einen gelben Schlapphut.
    »Du nimmst mich auf den Arm«, sagte Annie.
    »Nein. Ich war im Banquo Hospital in Delmont, Massachusetts. Meine Alma Mater. Ich habe so etwas wie D. I. D. und P. T. S. D . … und ich war ein paar Mal dort.«
    »Warum?«
    »Weil … ich manchmal vor mir selbst nicht sicher bin.«
    Annie verzog das Gesicht. Das klang wirklich verrückt. »Was soll das heißen?« Annies Blick wanderte unwillkürlich zu den Narben an Elizas Armen.
    »Machst du das nie?« Elizas Augen glänzten. »Dich verletzen?«
    »Absichtlich? Warum sollte ich?«
    »Um den eigentlichen Schmerz herauszulassen. Den inneren, wenn er nicht mehr auszuhalten ist … dann wird der Druck so groß, dass man ein Ventil braucht.«
    »Und sich verletzt?«
    »Sich mit Nadeln stechen, mit einer Rasierklinge schneiden«, erklärte Eliza, als sei das völlig normal, die einfachste Lösung der Welt. »Oder den Finger in eine Kerzenflamme halten.« Sie zeigte Annie die Kuppe ihres rechten Zeigefingers, sie war dunkel und von einer so dicken Hornhaut bedeckt, als sei sie wieder und wieder durchs Feuer gezogen worden.
    »Eliza, du bist WIRKLICH sonderbar.«
    »Ich nicht, aber die anderen«, erwiderte Eliza, zuckte beleidigt mit den Schultern und ging voraus, ein Mädchen, so spindeldürr, dass man sie mit dem Schatten eines kahlen Zweiges verwechseln konnte. Als sie sich umdrehte, lachte sie verschmitzt, als müsste sie jemandem ein Geheimnis anvertrauen und sei außerstande, es auch nur noch eine Minute für sich zu behalten. Sie umfasste die künstliche Blüte an ihrem Mieder mit der gewölbten Hand.
    »Ich liebe diese Blüte. Sie gehörte meiner Mutter. Und die hat sie wiederum von
ihrer
Mutter geerbt. Ist sie nicht schön und altmodisch?«
    »Ja, finde ich auch.«
    »Heute trägt niemand mehr Blüten am Kleid. Ist das nicht originell, für jemanden in unserem Alter?«
    »Sehr.«
    »In der Klinik durfte ich sie nicht haben. Wegen der Nadel. Keine spitzen Gegenstände.«
    »Spitze Gegenstände?«
    »Stecknadeln, Nadel und Faden, die silberne Spirale von Notizheften. Und natürlich keine Rasierklingen in der Dusche, alle Mädchen hatten die behaartesten Beine, die du je gesehen hast.«
    »Igitt.«
    »Genau. Nach meiner Rückkehr habe ich als Erstes gesagt: ›Dad, entweder besorgst du mir einen elektrischen Rasierer oder du siehst mich nie wieder.‹«
    »Und, hat er dir einen besorgt?« Annie bückte sich und hob Elizas langes Kleid an, um ihre glatten Beine zu betrachten. »Sieht ganz so aus.«
    »Ja. Ich liebe meinen Dad. Auch wenn er mich hasst.«
    »Er dich hassen? Nie im Leben!«
    »Warte, bist du die ganze Geschichte kennst. Auch Freunde fürs Leben sollten sich ein paar Geheimnisse aufheben. Solche Dinge kann man nicht überstürzen. Das habe ich in der Klapse gelernt, wo wir alle wie Flüchtlinge in einem Rettungsboot sitzen, uns aneinanderklammern und lebenslange Freunde sind … bis wir auf Nimmerwiedersehen zur Tür herausmarschieren. ›Schreib mir, ruf mich an, ich werde dich nie vergessen!‹ Aber wir haben ein kurzes Gedächtnis … hey, ist das die Uferpromenade meines Vaters?«
    »Ja, das ist sie.«
    Gemeinsam gingen sie die Treppe hinauf, in ehrfürchtigem Schweigen, als befänden sie sich auf einer Pilgerreise – zur Kathedrale von Notre-Dame, nach Mekka, zum Taj Mahal, zur St. Patrick’s Cathedral … oder zur Uferpromenade von Hubbard’s Point.
    »Stell dir vor, wie lange mein Vater gebraucht hat, um sie zu bauen.« Eliza ging in die Hocke, um mit den Fingerspitzen über die Planken zu streichen.
    »Mit der Hilfe meiner Mom.«
    Um sicherzugehen, dass ihre Zehen jede einzelne Planke berührten, trippelte Eliza über die Promenade. Annie wusste, dass sie nicht besonders lang war. Ungefähr fünfzig Meter von einem Ende bis zum anderen; in der Mitte befand sich ein Pavillon mit blauem Dach, der Schatten spendete.
    Auf der einen Seite führte die Promenade direkt an den Strand, einem weißen Sandstreifen, der sanft zum Meer abfiel. Auf der anderen war sie von Bänken gesäumt, die an einem brusthohen weißen Zaun standen; er sollte verhindern, dass jemand in das Hafenbecken fünf

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