Sommerhaus jetzt! - 13 Freunde und der Traum vom Wochenende im Grünen
Dickicht. Danach war er für eine Weile nicht mehr zu sehen, man hörte ihn nur noch im Unterholz schnaufen und Schneidegeräusche absondern. Ich bevorzugte die etwas behutsamere Methode, das Buschwerk Schicht für Schicht abzutragen, dem Urwald-Lockenkopf vor der Kahlrasur gewissermaßen einen flotten Stufenschnitt zu verpassen. Es klirrte etwas, woraufhin es im Gesträuch für einen Moment lang ganz still wurde.
Dann meldete sich Olli zurück: »Shit!«
Mit Schwimmbewegungen schob ich das Buschwerk zur Seite, bis ich durch das Gerippe der unteren blattlosen Zweige den Freund wiedersah. Er hockte am Boden und hielt sich in fußballerischer Pose das Bein.
»Olli, watt is los?«
Er lupfte die Hose und präsentierte eine stark blutende Schnittwunde. »Shit!«
»Warte, ich hol dich da raus!«
Nachdem ich Olli am Stiel einer Harke aus dem Loch herausgezogen hatte, verarztete ich seine Wunde notdürftig mit einem Tempotaschentuch, das ich mit einem biegsamen Zweig an der Wunde festknotete. Dann stand der Kamerad wortlos auf und machte sich davon.
Olli war auf die Spuren einer untergegangenen Zivilisation gestoßen.
Es nahm nicht Wunder, dass es bei dieser Expedition in die unbekannten Ecken unseres Grundstücks den ersten Verletzten gab. Das Gestrüpp, dem Olli und ich den Kampf angesagt hatten, wurzelte, wie sich nun zeigte, nicht direkt in der uckermärkischen Erde. Am Grunde der von Kamikazegärtner Olli geschlagenen Bresche lag eine Schicht brauner Bierflaschenscherben und Kronkorken. Daneben zu erkennen war allerlei anderer Zivilisationsmüll wie verrostetes landwirtschaftliches Gerät, Autoreifen und dergleichen. Gärtnerkollege Olli hatte sich, das wurde mir jetzt klar, seine Verletzung mit großer Wahrscheinlichkeit an der Scherbe einer Flasche Sternquell beigebracht. Einem passionierten Biertrinker wie Olli durchaus würdig, fand ich.
Ich stutzte den Lockenkopf des Buschwerks zum Igelschnitt und begann, den Müll zwischen den verbliebenen Stängeln nicht nur einzusammeln, sondern auch gleich zu sortieren. Während ich die einzelnen Flaschenhälse, Bierdeckel, Plaste-, Elaste- und Metallteile fein säuberlich getrennt auf einzelne Haufen warf, wurde mir augenblicklich die Überfrachtung dieser Situation mit Bedeutung bewusst. Hier stand ich inmitten eines Raumzeittunnels, der am einen Ende in die untergegangene DDR führte, am anderen Ende in die wiedervereinigte Bundesrepublik des 21. Jahrhunderts. Ich, das zugezogene Westkind, der freischaffende Medienfuzzi aus Berlin, der hier zur Erholung fortan seine Wochenenden verbringen wollte, griff mir den DDR -Müll aus vier Jahrzehnten und sortierte ihn nach neudeutscher Routine: gelber Sack, blaue Tonne, Grüner Punkt. Der Ost-Schrott der Sechziger-, Siebziger- und Achtzigerjahre und die Resteverwertung von heute, dachte ich. Ein innerdeutscher Clash of Civilisations mit leichter Zeitverschiebung.
Wenn man schon im Müll herumwühlen musste, mobilisierte so eine kleine, autosuggestive Bedeutungsinjektion ganz neuen Arbeitseifer. Ich bückte mich, sammelte auf, trennte. Bückte mich, sammelte auf, trennte. Und beobachtete das Anwachsen der Haufen. Mit etwas Fantasie zeichnete sich anhand der unterschiedlichen Größen dieser Müllhaufen die Prioritätenstaffelung im real existierenden sozialistischen Landleben mit der Zeit deutlich ab. Der Anteil von Bierflaschen im Verhältnis zu agrarischen Gebrauchsgegenständen wie verbogenen Mistgabeln legte beredt Zeugnis ab: Alkohol spielte augenscheinlich keine kleine Rolle in der landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft – wow, was für eine Erkenntnis! Mit 1,8 Promille Stoff im Blut war ein Feldstein leicht mal mit dem Misthaufen zu verwechseln, und die Forken der Mistgabel bogen sich gen Himmel. Womöglich war es schlicht und ergreifend der Alkohol, so ahnte ich nun, der dem Arbeiter- und Bauernstaat den Garaus gemacht hatte, bevor Gorbi und Kohl kamen und seine tote Hülle nur noch aus der Geschichte schnipsen mussten. Was ich hier betrieb, war nichts anderes als DDR -Archäologie, so wurde mir klar, und ich sagte mir, dass die Zyklen, in denen Imperien untergehen und von Archäologen Schicht für Schicht wieder freigelegt werden, auch immer mehr zusammenschrumpfen. Meine Einsichten, dachte ich, sollten auch einem Landhauskollektiv des neuen Jahrtausends Mahnung sein. Während ich durchs Dickicht auf die glitzernde Oberfläche des Sees starrte, setzte ich mein Assoziationskettenmassaker noch ein ganzes
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