Sommerhaus mit Swimmingpool
der Löffel einfach nicht mehr bewegen. Ich schaue zum ersten Mal auf die Uhr. Natürlich so unauffällig wie möglich. Schließlich möchte niemand während einer Theatervorstellung dabei ertappt werden, wie er auf die Uhr schaut. Ich schiebe den Ärmel des Jacketts langsam ein wenig hoch, kratze mich am Handgelenk, als würde es da jucken, und werfe einen Blick auf das Ziffernblatt. Und jedes Mal stelle ich fest, dass die reale Zeit und die Theaterzeit zwei völlig verschiedene Größen sind. Oder besser gesagt: dass sie sich in verschiedenen, nebeneinander existierenden Dimensionen abspielen. Man glaubt (man hofft, betet), es möge schon eine halbe Stunde vorbei sein, doch die Zeiger der Uhr teilen einemmit, dass kaum zwölf Minuten verstrichen sind, seit das Licht im Theatersaal ausging. Man kann nicht seufzen oder stöhnen. Dann fällt man unnötig auf und bringt die Schauspieler aus der Konzentration. Aber es ist auch unmöglich, nicht zu seufzen und zu stöhnen. Das ist auch der große Unterschied zu einem Film: Man kann nicht weg. Im Kino kann man sich im Dunkeln heimlich aus dem Staub machen, sogar während einer Filmpremiere. Er muss sicher bloß dringend aufs Klo, denken die Leute, wenn sie es denn merken, und dann vergessen sie einen. Es fällt nicht so auf, dass man nicht mehr zurückkommt. Es ist denkbar. Es ist möglich. Ich habe das bei Filmpremieren schon öfter gemacht. Die ersten Male bin ich wirklich aufs Klo gegangen – die letzte Stunde des Films verbrachte ich sitzend auf dem Klodeckel, den Kopf in den Händen, seufzend, stöhnend, fluchend. Aber auch froh. Froh und erleichtert. Alles besser als der Film. Später entwickelte ich ein gewisses Geschick, mich auf Französisch zu empfehlen. Lässig, die Hände in den Hosentaschen, spazierte ich zum Ausgang. Ich muss mal an die frische Luft, sagte ich, wenn mir jemand über den Weg lief. Und schon stand ich draußen. Betrieb, Straßenbahnen, Motorroller, Menschen. Menschen mit normalen Gesichtern, mit normalen Stimmen. Menschen, die normale Dinge zueinander sagten. »Sollen wir noch was trinken, oder willst du schon nach Hause?« Statt: »Wir müssen verflixt noch mal aufpassen, dass Vaters Erbschaft nicht in die falschen Hände gerät, Martha.« Wie viele solcher Sätze kann ein Mensch innerhalb von anderthalb Stunden aushalten? »Meine Tochter wird nicht wie ein Flittchen herumlaufen! Dann ist sie nicht mehr meine Tochter!« Zu einem Film gehört Musik, und jedes Jahr wird sie lauter. Man kann seufzen und stöhnen nach Herzenslust, ohne dass es jemand merkt. Doch es verhält sich wie mit dem Schmerz. Man schnappt immer schneller und tiefer Luft. Ein Hund, der Schmerz empfindet, hechelt, die Zunge aus dem Maul. Sauerstoff. Man strengt sichan, möglichst viel Sauerstoff zur Schmerzstelle zu schleusen. Sauerstoff ist immer noch das beste Schmerzmittel. Ich stehe auf der Straße. Ich sehe die Leute. Ich sauge die frische Luft ganz tief in mich hinein. Bei einer Theatervorstellung ist das alles ausgeschlossen. Es gibt kein Schlupfloch. Bevor es losgeht, muss man unbedingt noch mal vor die Tür. Ohne Wenn und Aber – wobei das nicht ohne Risiko ist. Denn einmal draußen, wird man von verführerischen Gedanken überwältigt. Nicht mehr hineingehen ist von allen Gedanken der verlockendste. Nach Hause, Schuhe aus, sich aufs Sofa fläzen, im Fernsehen irgendein B-Movie, das man schon fünfmal gesehen hat. Alles besser als diese Theatervorstellung.
Es hat auch mit meinem Beruf zu tun. In meinem Beruf ist es notwendig, sich regelmäßig wirklich zu entspannen. Ich höre und sehe den ganzen Tag Dinge, die ich abends aus dem Kopf kriegen muss. Den Schimmel. Die blutenden Warzen. Hautfalten, zwischen denen die Temperatur zu hoch gestiegen ist. Eine Frau von hundertfünfzig Kilo, die man an einer Stelle untersuchen muss, von der man hoffte, sie nie mehr in Augenschein nehmen zu müssen. Aber in einer Theatervorstellung kann man sich nicht entspannen. Kaum ist das Licht aus, wittern die Dinge ihre Chance. Es ist dunkel, denken sie. Jetzt greifen wir ihn uns! Das einzige Licht ist jetzt das Licht auf der Bühne. Und die leuchtenden Zeiger meiner Uhr. Die unendliche Zeit nimmt ihren Anfang. Das große Stocken. Tagsüber während der Arbeit kann ich mich auf einen Abend freuen, an dem nichts passiert. Essen. Ein Bier oder ein Glas Wein. Nachrichten im Fernsehen. Das B-Movie oder ein Fußballspiel. Die Vorfreude ist der ideale Anfang eines Arbeitstags. Es ist ein
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