Sommerhaus mit Swimmingpool
Meiers letzte Augenblicke, im Krankenhaus, vor noch nicht einmal einer Woche. Das Schnapsglas mit dem tödlichen Cocktail stand auf einem Rolltisch am Bett. Neben einem halb leeren Becher Obstjoghurt, in dem noch der Löffel steckte, der Morgenzeitung und einer Shakespeare-Biografie, in der er in den letzten Wochen gelesen hatte. Nach dem Lesezeichen zu urteilen, war er nicht über die Hälfte hinausgekommen. Er hatte Judith gebeten, mit den beiden Söhnen kurz aus dem Zimmer zu gehen.
Als sie weg waren, winkte er mich zu sich.
»Marc«, sagte er; dann nahm er meine Rechte zwischen seine beiden Hände.
»Ich möchte dir sagen, dass es mir leidtut.«
Ich sah ihm ins Gesicht. Es war eigentlich ein ganz gesundes Gesicht, nur ein bisschen mager. Nur wer gesehen hatte, wie rund und voll es noch vor ein paar Monaten gewesen war, wusste, dass er krank war. Seine Augen waren klar.
Es war immer wieder merkwürdig. Ich hatte es öfter erlebt. Jemand wählte ein bestimmtes Datum, um zu sterben, doch an dem Tag blühte er plötzlich auf. Er lachte mehr als sonst, es war fast, als hoffte er, jemand würde ihn zurückhalten, jemandwürde zu ihm sagen, es sei doch Unsinn, einfach Schluss zu machen.
»Ich hätte nicht … ich hätte nie …«, sagte Ralph Meier. »Es tut mir leid. Das wollte ich dir noch sagen.«
Ich antwortete nicht. Mit den richtigen Mitteln und ein paar äußerst unangenehmen Behandlungen hätte er sein Leben vielleicht noch einen Monat verlängern können. Doch er hatte sich für das Schnapsglas entschieden. Für einen würdigen Abschied. Das Schnapsglas sorgte dafür, dass man die Hinterbliebenen nicht mit schwer auszulöschenden Erinnerungen belastete.
Trotzdem war es eigenartig. Der selbst gewählte Tod. Der selbst gewählte Tag. Das Werfen des Handtuchs. Warum nicht morgen? Warum nicht in einer Woche? Warum nicht gestern?
»Wie geht es … ihr?«, fragte er. Im letzten Moment verkniff er es sich, ihren Namen auszusprechen. Ich weiß nicht, was ich sonst getan hätte.
Ich zuckte mit den Achseln. Ich dachte an den Urlaub vor gut einem Jahr. Im Sommerhaus.
»Marc«, sagte er. Ich fühlte den Druck seiner Hand. Viel Kraft hatte er nicht mehr. »Kannst du ihr sagen … kannst du ihr sagen, was ich dir gerade gesagt habe?«
Ich wandte den Blick von ihm ab; ohne Mühe zog ich meine Hand zwischen seinen beiden Händen heraus – denselben Händen, die einmal die Kraft besessen hatten, andere Menschen Dinge tun zu lassen, die sie nicht wollten.
»Nein«, sagte ich.
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6
Es passierte eine halbe Stunde später. Ich stand im Flur, die beiden Söhne hatten Hunger bekommen und waren in die Kantine gegangen. Judith Meier kam von der Toilette zurück, wo sie sich offenbar die Lippen und die Augen geschminkt hatte.
»Ich bin froh, dass du dabei warst«, sagte sie.
Ich nickte. »Es war ein sanfter Tod«, sagte ich. Solche Sachen sagt man in so einem Augenblick. Automatisch. So wie man über eine Theateraufführung sagt, sie sei fantastisch gewesen. Oder das Ende eines Films ergreifend.
Ein Mann in einem Krankenhauskittel kam auf uns zu, blieb vor uns stehen und streckte Judith die Hand entgegen. »Frau Meier?«
»Ja?« Sie drückte die Hand.
»Maasland. Maasland. Hätten Sie einen Augenblick Zeit?«
Er hatte eine braune Mappe unter dem Arm. Auf einem Etikett rechts oben stand mit Filzstift »Herr R. Meier« geschrieben, darunter in kleineren Druckbuchstaben der Name des Krankenhauses.
»Und Sie sind?«, fragte Maasland. »Ein Verwandter?«
»Ich bin der Hausarzt«, sagte ich und streckte die Hand aus. »Marc Schlosser.«
Maasland ignorierte meine Hand.
»Schlosser«, sagte er. »Das ist … das trifft sich gut. Es gibtein paar Dinge …« Er schlug die Mappe auf und begann zu blättern. »Wo habe ich es? Hier.«
Irgendetwas in Maaslands Körpersprache bewirkte, dass ich auf der Hut war. Wie alle Spezialisten machte er keinen Hehl aus seiner tiefen Verachtung für Hausärzte. Ob Chirurg oder Gynäkologe, Internist oder Psychiater, sie sahen einen alle mit dem gleichen Blick an. Hattest damals wohl keine Lust, noch weiterzustudieren?, besagte dieser Blick. Warst zu faul, dich noch mal vier Jahre abzurackern? Oder hattest womöglich Angst vor wirklicher Arbeit? Wir schneiden Menschen auf, wir dringen zu den Organen vor, zum Gehirn, der Schaltzentrale des menschlichen Körpers, wir kennen diesen Körper, wie ein Mechaniker den Motor eines Autos kennt. Ein Hausarzt darf nur die Motorhaube
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