Sommerhaus mit Swimmingpool
feuchte Fingerspitzen, Druck hinter den Augen und das Gefühl, mich in einem Albtraum zu befinden. Man fährt endlos im Kreis durch ein Neubauviertel und findet den Ausgang nicht mehr.
»Ralph Meier?«, sagte Caroline. »Wirklich? Ich wusste gar nicht, dass er Patient von dir ist.«
Caroline ist meine Frau. Sie kommt nie freiwillig zu Premieren mit. Auch nicht zu Buchvorstellungen, Vernissagen und Retrospektiven auf Filmfestivals. Sie fühlt sich dort noch elender als ich. Ich dränge sie selten. Nur wenn ich mich ganz dreckig fühle, flehe ich sie schon mal auf den Knien an, mich zu begleiten. Dann weiß sie, dass es ernst ist, und geht, ohne zu protestieren, mit. Aber den Kniefall hebe ich mir für Notfälle auf.
» Richard II. «, sagte sie, während sie die Einladung auseinanderfaltete. »Shakespeare … Ach, warum nicht? Ich komme mit.«
Wir saßen am Frühstückstisch in der Küche. Unsere beiden Töchter waren schon auf dem Weg zur Schule. Lisa, dieKleine, zur Grundschule um die Ecke, Julia mit dem Rad zum Lyzeum. In zehn Minuten würde mein erster Patient da sein.
»Shakespeare. Das bedeutet mindestens drei Stunden«, sagte ich.
»Ja, aber mit Ralph Meier. Den habe ich noch nie live auf der Bühne gesehen.«
Beim Aussprechen des Namens des Schauspielers bekam meine Frau einen verträumten Blick.
»Was guckst du so?«, fragte sie. »Ich mache kein Geheimnis daraus. Für eine Frau ist Ralph Meier einfach ein attraktiver Mann. Da sind drei Stunden echt nicht zu lang.«
Und so gingen wir zwei Wochen später zur Premiere von Richard II . in die Amsterdamer Stadsschouwburg. Es war nicht meine erste Shakespeare-Aufführung. Ich hatte schon etwa zehn hinter mir. Der Widerspenstigen Zähmung , wo alle Männerrollen von Frauen gespielt wurden, Der Kaufmann von Venedig mit Schauspielern in Windeln und Schauspielerinnen in Müllsäcken, auf dem Kopf Plastiktüten, Hamlet, gespielt von Menschen mit Down-Syndrom inklusive Windmaschinen und einer (toten) Gans, der auf der Bühne der Kopf abgehackt wurde, King Lear mit Ex-Junkies und Waisenkindern aus Simbabwe, Romeo und Julia in einem halb fertigen U-Bahn-Tunnel, an dessen Wände, von denen das Abwasser rieselte, Fotos aus Konzentrationslagern projiziert wurden, Macbeth, wo alle Frauenrollen von Männern gespielt wurden, die bis auf einen Schnürsenkel zwischen den Arschbacken nackt waren, an ihren Brustwarzen hingen Handschellen und Gewichte, zwischendurch wurden Granatfeuer, Songs von Radiohead und Gedichte von Radovan Karadžić zu Gehör gebracht. Ich traute mich kaum, die Handschellen und Gewichte anzuschauen, die an Brustwarzenringen befestigt waren, aber ansonsten erlebte ich vor allem das zähe Verstreichen der Zeit. Ich erinnerte mich an Flugverspätungen, die halbe Tage oder längerdauerten, aber zehnmal schneller vorbeigingen als diese Aufführungen.
Aber in Richard II . trugen alle Akteure historische Kostüme. Und auch das Bühnenbild – der Saal eines Schlosses – war angenehm stilecht. Ralph Meiers Auftritt war beeindruckend, davor war das Publikum einfach nur still gewesen, jetzt wurde es mucksmäuschenstill. Bis Richard seine ersten Worte sprach, hielten alle den Atem an. Ich warf Caroline einen Blick zu, aber sie starrte mit geröteten Wangen wie gebannt auf die Bühne. Drei Stunden später standen wir mit einem Glas Champagner im Foyer. Um uns drängten sich Männer in blauen Blazern und Frauen in Abendkleidern. Viel Schmuck: Armreife, Ketten, Ringe. In einer Ecke spielte ein kleines Streichtrio.
»Sollen wir allmählich …?« Ich schaute auf die Uhr. Zum ersten Mal an diesem Abend, wie mir auffiel.
»Ach, Isis kann ruhig noch ein bisschen warten«, sagte Caroline. »Komm, lass uns noch was trinken.«
Isis war unser Babysitter. Sie war sechzehn, und ihre Eltern sahen es nicht gerne, wenn sie zu spät nach Hause kam. Julia war damals dreizehn, Lisa elf. In zwei Jahren würden wir bestimmt unsere Kleine mit unserer Großen allein lassen, aber so weit war es noch nicht.
Als ich mit den frisch gefüllten Gläsern zurückkam, entdeckte ich etwa zehn Meter von uns entfernt Ralph Meier, der alle um einen Kopf überragte. Er nickte nach links und nach rechts und grinste wie jemand, der es gewöhnt ist, Glückwünsche in Empfang zu nehmen.
»Da ist er«, sagte ich. »Ich werde euch vorstellen.«
»Wo?« Meine Frau, die einen Kopf kleiner ist als ich, hatte ihn noch nicht gesehen. Sie strich sich rasch das aufgesteckte Haar zurecht und
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