Sommerhaus mit Swimmingpool
Gedanken, Judith .
Ich will ehrlich sein. Als sie mir die Hand gab und sich vorstellte, betrachtete ich sie wie jeder Mann eine Frau betrachtet, die zum ersten Mal in sein Blickfeld gerät.
Würdest du mit ihr? , dachte ich und schaute ihr in die Augen. Ja , lautete die Antwort.
Und Judith erwiderte meinen Blick. Es ist eine Frage von Sekunden. Wie lange man einander in die Augen schaut. Und so hatten wir uns angesehen. Etwas länger, als gemeinhin als ›anständig‹ gilt. Und während ich ihren Namen vergaß, lachte sie mich an. Es war nicht so sehr ihr Mund, der lachte, als vielmehr ihre Augen.
Ja , sagten diese Augen. Ich mit dir auch.
Anständig ist nicht das richtige Wort. Anstand gehört inSätze, die man lieber nicht aus dem eigenen Mund hört. Etwa: »Ich darf doch darum bitten, die Regeln des Anstands zu wahren, meine Herren.« Nein, anständig kann ich mich beim besten Willen nicht nennen. Ich schaue Frauen so an, wie ich sie anschaue, weil ich nicht wüsste, wie ich sie sonst anschauen soll. Es ist vielleicht schade für die »netten« Frauen, für die »eigentlich ganz sympathischen« Frauen, aber die schaue ich vorsorglich nie zu lange an. Ich bin nicht unhöflich, unterhalte mich angeregt mit ihnen, wenn es sich nicht vermeiden lässt, aber meine Körpersprache ist unmissverständlich. Mit dir nicht, never , steht mir in Druckbuchstaben auf die Stirn geschrieben. Allein schon der Gedanke! Nie im Leben! Nette Frauen kompensieren den Mangel an Sexappeal mit angelernten oder angeborenen Talenten auf anderen Gebieten. Sie schmieren bei Zusammenkünften mit mehr als hundert Teilnehmern alle Brote. Oder sie bestellen für alle Partyhüte und Masken. Oder sie schaffen mit einem Fahrradanhänger unaufgefordert mehr Holz als nötig für alle Feuerkörbe herbei. »So sympathisch, diese Wilma«, sagen alle. »So ein sympathischer Mensch! Wer macht schon so etwas? Wer hätte sonst daran gedacht?« Wilma ist zwar ersichtlich zu blass, zu mager oder einfach zu hässlich, aber sie macht so vieles gleichzeitig mit so netter Uneigennützigkeit, dass es gemein wäre, sich darüber zu mokieren. Und schließlich bleibt bei einer dieser Zusammenkünfte mit mehr als hundert Teilnehmern auch noch ein Mann an Wilma hängen. Buchstäblich. Es ist derselbe Mann, der den ganzen Abend am Rand der Tanzfläche stand. Er bewegte sich zwar mit den Tänzern mit, tanzte aber selbst nicht. Das Bier in seiner Hand wiegte sich im Takt der Musik. Das war dann aber auch das Einzige an dem Mann, was sich rhythmisch bewegte. »Erinnerst du dich noch an den Mann?«, fragen die Leute später. »Der Mann auf der Party? Der ist jetzt mit Wilma zusammen.« Von dem Tag an ist er derjenige, der die zweihundert Brötchen beim Bäcker kauft und das Holzfür die Feuerkörbe hackt. Wilma erholt sich von der jahrelangen Anstrengung, immer den hilfsbereiten Menschen zu spielen. Recht hat sie. Dann kommen Kinder. Hässliche Kinder. Hochbegabt und kontaktgestört. Kinder, die gern in die Schule gehen. Die mehrere Klassen überspringen, aber immer gehänselt werden. Meist ist die Gesellschaft daran schuld, wenn sie später im Leben nur als Hilfskraft beim Bio-Markt Arbeit finden. Wilmas Freundinnen zerbrechen sich den Kopf darüber, was sie bloß an diesem unbeholfenen Mann findet. Aber auf einer gewissen Ebene verstehen sie es. Nur was sie verstehen, das sagen sie Wilma nicht. Nur einander. »Es ist doch schön für sie, dass sie nun wenigstens jemanden hat«, sagen sie. »Es klingt vielleicht komisch, aber irgendwie passen sie sogar zusammen.«
Würdest du mit ihr? Das fragten wir einander während des Studiums bei der Autopsie immer, wenn eine neue Leiche auf den Seziertisch gelegt wurde. Mal war es ein ausgemergelter Alter, der sich der Wissenschaft zur Verfügung gestellt hatte, mal ein Verkehrsopfer, in dessen Jackentasche ein Spenderausweis gesteckt hatte. Wir machten das, um die Anspannung vor dem Sezieren zu überspielen. »Würdest du es mit ihm / ihr tun?«, flüsterten wir einander außer Hörweite des Professors zu. »Für hunderttausend Euro? Eine Million? Nein? Und für fünf Millionen?«
Da schon teilten wir die Leichen in Kategorien ein. »Nett« bedeutete schlicht hässlich; »anziehend« war jemand mit einem ganz passablen Gesicht, aber mit einem Hintern, auf dem man eine Flasche Sekt hätte zerschlagen können; »hübsch« bedeutete, dass ein Fotomodell auf dem Seziertisch lag. Nur schade, dass es so kalt war und sich nicht
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