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Sommerhit: Roman (German Edition)

Sommerhit: Roman (German Edition)

Titel: Sommerhit: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Liehr
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Frau anrief, diese …«
    »Sabine.«
    Christine nickte, auch in Richtung Tresen, von wo die mollige Frau energisch winkte. »Erst war ich schockiert und habe sofort wieder aufgelegt. Minutenlang war ich völlig paralysiert. Dann dachte ich, dass es mir vielleicht helfen könnte. Ich meine, es geht mir gut. Wirklich. Ich habe ein schönes Leben,vielleicht ein zu schönes. Dieses Hotel führe ich eigenverantwortlich. Ich wohne nicht weit von hier und besitze ein hübsches kleines Haus am See. Ich lese, höre Musik, gehe spazieren, verfüge über ein nettes Team von engagierten Leuten. Aber diese Sache hat mich nie losgelassen. Eine halbe Stunde später habe ich zurückgerufen und dieser Sabine angeboten, das Treffen hier zu veranstalten. Auf sicherem Terrain, du verstehst?«
    Ich nickte, die Empfangsdame machte nervöse Geräusche. Vor dem Tresen warteten drei Herren in den Vierzigern, von denen einer möglicherweise Gerry war. Sie glotzten zu uns herüber und tuschelten.
    »Wir sehen uns«, sagte sie, drehte sich um und ging.
     
    Obwohl ich nach wie vor müde war und mich schmutzig fühlte, setzte ich mich wieder in den Sessel und beobachtete das Treiben am Empfang. Der Typ, den ich für Gerry hielt, erwiderte meinen Blick, die anderen beiden wandten sich Chrissie zu, bemühten sich für einen kurzen, peinlichen Augenblick um übertrieben freundschaftliche Begrüßungsgesten, die die Hotelmanagerin jedoch nonchalant abblockte. Also auch ehemalige Klassenkameraden.
    Seine zusammengewachsenen Augenbrauen wirkten buschig und unsauber, nahmen einen Gutteil der oberen Gesichtshälfte über den inzwischen wässrig-hellbraunen Augen ein, die noch schmaler, kleiner wirkten als früher. Die zweite Komponente, die sein Gesicht beherrschte, war seine knollige Nase, rötlich glänzend und mit so großen Poren, dass ich es aus der Entfernung gut erkennen konnte. Hätte ein Comiczeichner vor fünfundzwanzig Jahren eine Karikatur des gealterten Gerry aufs Papier geworfen, wäre möglicherweise etwas dabei herausgekommen, das diesem Menschen heute ähnelte. Er trug einen dunkelblauen Konfektionsanzug, dessenSchulterpolster er nicht ganz ausfüllte, wodurch seine Krakenarme noch länger wirkten. Von Gerrys braunschwarzen Locken waren nur noch ein paar graubraune Reste übrig, die ich jetzt erst sehen konnte, als er sich nach seinem Trolley bückte, um ihn dann doch stehen zu lassen. Mein ehemaliger Mitschüler drückte die Schultern durch, eine fast wirkungslose Geste, setzte ein leicht vertreterhaftes, zugleich unsicheres Lächeln auf und kam auf mich zu.
    Für einen Augenblick war ich besorgt, fürchtete, Chrissie wäre nicht die Einzige, die mich erkannt hatte.
    Schon einen Meter von mir entfernt streckte er die rechte Hand aus. Sein Anzug roch stark nach Mottenkugeln. Außerdem verströmte Gerry, vom billigen Aftershave abgesehen, den süßsäuerlichen, markanten Schweißduft der Alkoholiker. Und als er jetzt den Mund öffnete, nahm ich das Aroma von Wodka wahr, von dem so viele Säufer glauben, man könne ihn nicht riechen.
    »Äh, darf ich Sie kurz stören?«, fragte er, beinahe unterwürfig. Dabei hielt er mir immer noch die Hand entgegen. »Mein Name ist Gerald Herbing, ich bin hier auf einem Klassentreffen.«
    Ich tat ihm den Gefallen und nahm seine Hand. Sie fühlte sich feucht an – und auf verblüffende Weise befriedigte mich dieser Handdruck, ohne mich zu befrieden. Die Erinnerung an jenen Nachmittag im Volkspark Schöneberg hatte wenig von ihrer Präsenz verloren, wie ich augenblicklich feststellte.
Das hier wirst du für lange Zeit nicht vergessen.
Nein, ich hatte es nicht vergessen. Mein eigenes Spiegelbild erinnerte mich täglich daran. An der Tatsache aber, dass ich das unverhoffte Ergebnis mochte, hatte Gerry keinen Anteil.
    »Tag«, sagte ich nur. Am liebsten hätte ich laut losgelacht, und ein anderer Teil von mir wollte ihm einfach so lange in die Fresse hauen, bis
er
zu lachen begänne.
    »Äh, Sie sind doch …«
    »Ja?«
    Dieses Spiel hatte ich schon oft gespielt, aber meistens auf versöhnlichere Weise. Menschen erkannten mich, konnten mich aber nicht einordnen, was sie nicht daran hinderte, mich anzusprechen – so wie der Taxifahrer vorhin. Ich half dann mit »Martin Gold, Musiker« aus. Gerry tat ich diesen Gefallen nicht.
    »Äh«, sagte er zum dritten Mal, sah kurz hilfesuchend zum Tresen, bereute vermutlich die Entscheidung, zu mir gekommen zu sein. »Sie sind Sänger, richtig?«, riet er.
    Ich

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