Sommerhit: Roman (German Edition)
sich bisher mit Heiko oder Tine erlaubt hatten. Die Musik war laut, der Fahrer, ein älterer Herr mit Brille und grauem Vollbart, der auf mich irgendwie gebrechlich wirkte, hatte einen dicken Schweißfilm auf der Stirn, der sicherlich nicht nur von der enormen Hitze kam, die draußen wie drinnen herrschte. Er sah mich an, als wäre ich jemand, der ihn zu retten in der Lage wäre – hilfesuchend, kurz vor der Verzweiflung. Er blinzelte hochfrequent.
Frau Erdt und Herr Bonker, gleich in der ersten Reihe auf der anderen Seite, sahen nicht sehr viel anders aus, wobei es einen Unterschied zwischen ihnen gab. Frau Erdt, die junge Referendarin, schien sich in einer Art Trance zu befinden – es machte den Eindruck, als hätte sie völlig abgeschaltet, einfach aufgegeben. Ihr blonder Topfschnitt war etwas verwuschelt, ihr Lippenstiftauftrag fleckig verwischt, und ihre Augen waren nur halb geöffnet, als sie mich jetzt ansah und dann leise begrüßte.
Herr Bonker, der praktisch in letzter Minute als Begleiter für unseren ehemaligen Klassenlehrer, Herrn Bährmann, eingesprungen war, war ein Phänomen, und es stellte nicht nur für mich ein absolutes Rätsel dar, warum dieser Mann Schulklassen an einem Gymnasium unterrichten durfte. Er hatte schüttere, dunkelbraune Haare, war sehr groß und breit, aufbehäbige Weise mächtig, aber er war zugleich so verlangsamt wie die Figuren bei Arndts Filmaufnahmen. In seinem Gesicht war immer ein Lächeln, ganz gleich, was geschah, und in seinem Unterricht geschah vieles, wovon nur weniges mit Wissensvermittlung zu tun hatte. Der Mann, der vielleicht fünfzig Lebensjahre zählte, erweckte den Eindruck, sich ständig in einer ganz anderen Welt zu befinden als alle Menschen um ihn herum. Er ließ sich durch nichts unterbrechen oder davon abbringen, seine unglaublich ermüdenden, aber wissensreichen Vorträge zu halten, er kam sekundengenau pünktlich in die Klasse und unterbrach sich auch mitten in einem Satz, wenn die Pausenklingel ertönte. Er stellte Fragen und wartete die Antworten ab, ohne ihnen die allergeringste Aufmerksamkeit zu widmen, er beurteilte sämtliche Tests und Klassenarbeiten nach einem geheimnisvollen System mit den Noten Zwei oder Drei, aber es war leicht, ihn in einer anschließenden Diskussion, bei der es völlig egal war, was man sagte, zu einer besseren Note zu überreden. Herr Bonker trug graue Anzüge, schwarze Lackschuhe, blendend weiße Hemden und dazu immer eine dunkelblaue Fliege, und wenn er die Klasse betrat, mit auf dem Brustkorb abgelegtem Kinn, das er erst anhob, wenn er seine Position erreicht hatte, war die braune Aktentasche unter seinen mächtigen Arm geklemmt, als müsse er sie in starkem Sturm beschützen. Das stimmte in gewisser Weise, denn diese Aktentasche, die zwei Kugelschreiber, einen Füllfederhalter, ein leeres Notizbuch und eine graue Metallschachtel mit Herrn Bonkers Mittagessen (Käse- oder Salamibrote) enthielt, war eines der bevorzugten Angriffsziele meiner Mitschüler. Nachdem Herr Bonker die wenigen Gegenstände auf dem Lehrertisch – Klassenbuch, Schreibunterlage, Geschichtsbuch – so angeordnet hatte, dass alles seiner zwanghaften Vorstellung von Ordnung entsprach, stellte er die Aktentasche rechts neben dem Pult auf den Boden, und ertat das, obwohl er eigentlich wissen musste, was geschehen würde, und es geschah
immer
. Nicht nur in unserer Klasse.
Herr Bonker entsprach dem genauen Gegenteil des Lehrer-, gar des Menschentyps, den man auswählen würde, um eine dreißigköpfige Gruppe von Sechzehn- bis Siebzehnjährigen zu beaufsichtigen, die mehrere hundert Kilometer von ihren Eltern entfernt vierzehn Tage in einem zum Landschulheim umgebauten Kastell in Frankreich verbringen würde. Er war insofern das Äquivalent zu Arndt (oder mir), wenn dieser in eine Völker- oder Fußballmannschaft hineingewählt wurde. Man wusste, dass er in der Mannschaft keinen gewinnbringenden Zweck erfüllen würde, aber man benötigte schließlich elf Leute oder war vom Lehrer dazu genötigt worden, ihn schließlich doch noch ins Team aufzunehmen. Mit etwas Glück war er wenigstens kein Hindernis.
Ursprünglich hatte der Plan darin bestanden, eben mit Herrn Bährmann zu fahren. Das war vor drei Jahren der zweite Repräsentant des Walter-Gropius-Gymnasiums gewesen, den ich kennengelernt hatte, und Bährmann hatte mich damals echt überrascht. Er war der erste Mensch, der mir im Westen begegnete, der sich aufrichtig darüber zu freuen schien, dass
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