Sommerhit: Roman (German Edition)
mir war wütend darauf, dass sie mir die Chance genommen hatten, das selbst herauszufinden, aber ein anderer Teil verstand auch, dass sie es getan hatten, um auch mir etwas zu ermöglichen, was insbesondere mein Vater für sich erträumt hatte. Ich fragte mich, wo sie wohl jetzt wären. Papa saß sicherlich im Gefängnis, etwas, das meine Fantasie nicht mit Inhalten zu füllen in der Lage war, Sonja lebte vielleicht in einem Heim oder bei irgendeiner Pflegefamilie. Richtig vorstellen konnte ich mir das nicht. Letztlich, musste ich mir eingestehen, wusste ich über die DDR genauso wenig wie über dieses Land hier, das eigentlich nur eine Stadt mit Mauer drum herum war, die wir nicht passieren durften, weder mit dem Auto noch per Bus oder mit der Bahn, weil dann von unserer Familie nichts mehr übrigbleiben würde.
Mama seufzte, ein zitterndes Seufzen, und griff nach meiner Hand.
»Ich bin so traurig«, sagte sie.
Da konnte ich nur nicken.
Comment ça va? (1983)
Auch nach drei Jahren hatte ich mich noch nicht an alle Veränderungen des Lebens gewöhnt, wobei es vor allem die kleinen Dinge waren, die mich nach wie vor herausforderten. Vieles fühlte sich anders an – Besteck, Geschirr, Münzen, Geldscheine, Türklinken, Wasserhähne, Kugelschreiber, Filzstifte, Schultaschen, Telefonapparate (ich liebte das Tastentelefon, das Onkel Gerhard gerade bekommen hatte, obwohl ich nur selten jemanden anrief), Möbel, Bedienungsknöpfe an Geräten, Tuben, Flaschen, Tiegel, Papier aller Art, von Klo- bis Schreibpapier, und vor allem: Lichtschalter. Noch nach Monaten wartete ich instinktiv auf das Zurückschnappen der flächigen Schalter, wenn ich irgendwo Licht angemacht hatte, aber sie verharrten einfach in der Stellung, in die ich sie geschnippt hatte. Minutenlang stand ich eines Abends vor der matten Metallfläche in Onkel Gerhards Arbeitszimmer, die schlicht überhaupt keinen erkennbaren Mechanismus aufwies, und als ich sie dann berührte, ging das Licht an, aber es wurde trotzdem nicht so hell, wie ich das erwartet hätte: ein Sensordimmer. Ich hatte Gerhard zwar schon häufiger in seinem Arbeitszimmer besucht, und die Lampe hatte immer nur mit voller Stärke geleuchtet, aber aus irgendeinem Grund fand er es richtig, diese Technik zu besitzen.
Das, begriff ich bald, war auch der größte Unterschied zwischen »ihnen« und »uns«: Während die einen alles taten, was
möglich
war, machten die anderen das, was
nötig
war. Hier bestimmte die Form den Wert, die Aufmachung, der Glanz, den etwas verströmte, und wenn man die Auswahl hatte – und die hatte man fortwährend, auch wenn das häufig mit Enttäuschungenverbunden war –, nahm man die Alternative, die vermeintlich einen höheren Wert darstellte, schicker aussah, das sattere Geräusch beim Umschalten machte. Bei uns früher hatte die Funktion im Vordergrund gestanden, aber vielleicht auch nur, weil die Ressourcen fehlten oder knapp gehalten wurden, sich um diesen Mehrwert zu scheren. Manchmal kam es mir vor, als wenn in der DDR versucht würde, die anderen, den Westen, in kläglicher, fast kindischer Weise nachzuahmen, und ich ärgerte mich sofort darüber, wenn ich meine Heimat in dieser Weise gedanklich diskreditierte.
Eines dieser Phänomene waren Autotüren. PKW waren hier sowieso völlig anders als bei uns, viel geräumiger, verzierter, kräftiger, automatischer,
aromatischer
, schneller. Onkel Gerhard erzählte mir, als ich erstmals in seinen wuchtigen BMW einstieg, dass ganze Kollektive (sie hießen hier anders, nämlich
Teams
) damit beschäftigt waren, das Zuklappen einer Autotür mit einem satten, volltönenden Geräusch auszustatten. Dieser Gedanke beschäftigte mich tagelang – Menschen, die der wahnwitzigen Beschäftigung nachgingen, Türen so oft zu verändern und zuzuschlagen, bis ein Geräusch ertönte, das nach Wert klang. Andererseits fand ich es schön, sich in dieser misstönenden Welt, die in gewisser Weise viel lauter war als meine frühere, mit dem Klang der Dinge auseinanderzusetzen. Und außerdem gab es in der DDR auch vieles, das nur getan wurde, um irgendeinen Eindruck zu erwecken, der mit der Realität nichts zu tun hatte, das wusste ich natürlich auch. Aber es hatte schon etwas Perverses, dass sich die Leute hier Autos nach dem Klang der Türen aussuchten, während meine Leute jahre-, manchmal jahrzehntelang auf PKW warteten, bei denen sie gerade mal die Außenfarbe aus einer schmalen Palette wählen konnten – Autos, die hier
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