Sommerhit: Roman (German Edition)
niemand würde fahren wollen, nicht einmal, wenn sie die Wagen geschenkt bekämen. Papa hatte kurz nach meiner Geburt einen für mich bestellt,auch einen 601, weil die Wartezeit für Wartburgs noch viel länger war.
So ein sattes Türschließen war auch jetzt zu hören, als ich das Taxi verlassen hatte. Ein Mercedes. Keine Frage, dieses Auto strahlte wirklich eine ganz andere Ästhetik aus als ein Trabant – seit drei Jahren hatte ich keinen mehr gesehen.
Wenig später stand ich in der Halle des Flughafens Tegel, über der Schulter mein praller Rucksack, in der einen Hand mein
Walkman
, den ich seit einem Jahr besaß und hegte wie seinerzeit den Fünfzigmarkschein, in der anderen mein behelfsmäßiger Personalausweis (alle Personalausweise in Westberlin waren »behelfsmäßig«, aber ich war jetzt tatsächlich BRD-Bürger) und der Flugschein. Meine Klassenkameraden, die keine Kameraden waren, aber auch kein Kollektiv und keine Brigade, sondern einfach nur junge, überwiegend unangenehme Leute, mit denen ich zufällig in dieselbe Klasse ging, waren bereits seit vier Stunden unterwegs, in einem Bus, der in etwa zweieinhalb Stunden die Gegend von Frankfurt am Main erreichen würde. Ich durfte nicht per Transit durch die DDR reisen, denn ich war ein Republikflüchtling, also flog ich dorthin, um mich der Klasse anzuschließen, in der es einiges an Neid wegen dieser Sonderbehandlung gegeben hatte. Frau Perpel, die kurz vor der Frühpensionierung stand und deren krachender Husten häufig durch die Schulflure schallte, hatte den dafür nötigen Zuschuss zähneknirschend und unter viel Tamtam bewilligt.
Kurz darauf saß ich zum zweiten Mal in meinem Leben in einem Flugzeug, damals waren wir von Nürnberg nach Berlin geflogen, und es war kein schönes Gefühl, wieder an diese Zeit erinnert zu werden. Ich schob mein Buch – »Tunnel zu den Sternen« von Robert A. Heinlein, eigentlich war ich dafür zu alt, aber ich hatte einiges nachzuholen – ins Netz der Rückenlehnevor mir und schnallte mich an. Ein sehr dicker Mann, der eine seltsame Geruchsmischung aus feuchtem Holz, Margarine (Rama), Deodorant (BAC) und sehr säuerlicher Transpiration verströmte, nahm neben mir Platz, aber sein Sitz reichte kaum für ihn aus. Er drückte und drängte mit jeder Bewegung gegen mich, hieb mir versehentlich mit dem Oberarm oder der Schulter in die Seite, wonach er sich jedes Mal entschuldigte, und währenddessen wurde sein Geruch immer stärker. Ich lehnte mich gegen die Bordwand und sah aus dem Fenster. Wir rollten an, hielten wieder, dann ging ein Dröhnen durch das Flugzeug (Warum arbeiteten sie nicht daran, dieses fiese, weltuntergangsartige Geräusch angenehmer zu machen?), der Schub drückte mich in den Sitz – und wir hoben ab. Ich presste meine Nase ans Fenster und sah auf die gewaltige Stadt, über die wir in einer langen Kurve hinwegflogen. Ich sah viel Grün inner- und außerhalb, die Seen im Westen von Berlin, und dann befanden wir uns über dem Staatsgebiet der DDR.
Irgendwo da unten waren Papa und Sonja. Irgendwo. Sonja war jetzt fast zwanzig, und ich würde im Oktober volljährig werden. Ich versuchte mir vorzustellen, was sie tat, ob sie vielleicht in einem Konsum arbeitete oder studierte, was sie immer gewollt hatte, aber natürlich war das unmöglich, denn sie war ja die Tochter von Staatsfeinden, und solche Menschen durften nicht studieren. Ob sie wusste, wo wir waren? Und wo Papa sich befand?
Ich schniefte und wischte mir die Tränen aus dem Gesicht.
Der dicke Mann fragte: »Alles in Ordnung? Hast du Angst?«, und er lächelte dabei sehr freundlich, weshalb ich mich höflich bedankte und die Frage verneinte. Dann starrte ich noch eine Weile auf meine frühere Heimat, bis sie unter faseriger, aber blickundurchlässiger Bewölkung verschwand. Ich setzte die Kopfhörer auf und startete meine Lieblingscassette,eine Zusammenstellung von amerikanischen Singer-Songwritern wie James Taylor und Jackson Browne, lauschte auf das virtuose Gitarrenspiel – einige Titel konnte ich schon nachspielen, auf
Karen
, der billigen, klavierlackschwarzen Akustikgitarre, die ich zum siebzehnten Geburtstag bekommen hatte – und die großartigen Stimmen, die mich davon ablenkten, dass ich über das Gefängnis hinwegflog, in das meine geliebte Schwester und mein Vater eingesperrt waren.
Schon als ich den Bus bestieg, spürte ich, dass hier etwas im Gange war, etwas Bösartiges, das alle Neckereien in den Schatten stellte, die sie
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