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Sommerhit: Roman (German Edition)

Sommerhit: Roman (German Edition)

Titel: Sommerhit: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Liehr
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ich aus der DDR kam. Es dauerte ein bisschen, bis ich begriff, warum das so war – der Mann war schlicht und ergreifend ein Verbalkommunist, der Archetyp des »links reden, rechts leben«, von denen ich später im Musikgeschäft noch so viele treffen würde. Und er versuchte, mich für seine Zwecke zu instrumentalisieren. Als er eine Woche nach meinem Schulantritt in die Sozialkundestunde geschritten kam, wobei er ein FDJ-Hemd trug, sah er mich dabei beifallheischend an, und in diesem Moment sank er in meiner Beurteilung noch unter die Geringschätzung, die ich für Herrn Leder empfand, der sehr wahrscheinlich ein Gutteil Schuld an unserer Situation trug, wie ich mit der Zeit verstanden hatte.Was dachte sich dieser langhaarige, bemüht jugendlich wirkende Anfangdreißiger eigentlich, warum ich hier war? Hielt er mich für einen Spion oder einen offiziell beauftragten Sprecher, dessen Aufgabe darin bestand, den Marxismus-Leninismus in diesen Außenposten der BRD zu tragen?
    »Wer von euch außer Falk weiß, was an meiner Kleidung besonders ist?«, fragte dieser Vollidiot, nachdem er sich betont lässig seitlich aufs Pult niedergelassen hatte. Dabei sah er mich an, als wären wir verwandt. Ich mühte mich, in meinen Gesichtsausdruck nicht zu viel Abscheu zu legen – immerhin wusste ich zu diesem Zeitpunkt noch nichts darüber, wie das Schulsystem hier funktionierte.
    Erstaunlicherweise lagen meine Mitschüler diesem heuchlerischen Mann praktisch zu Füßen. Sein pädagogisches Konzept war simpel, aber wirkungsvoll: Er schleimte sich bei den Schülern ein, machte sie zu Freunden – Leistungsdruck gab es in seinem Unterricht nicht, und in seiner riesigen, geräumigen Altbauwohnung fanden mindestens einmal pro Woche Treffen statt, bei denen Tee getrunken, Musik gehört und geplaudert wurde (einmal nahm ich teil, das reichte mir), außerdem behandelte er uns, als wären wir seinesgleichen und nicht er der Lehrer und wir die Schüler. Gleichzeitig betrieb er intensive politische Indoktrination, vor allem, als er schließlich Mitglied der »Alternativen Liste« wurde, die Zahl der Plaketten an seinem Cordjackett beinahe täglich anwuchs und er sich große Mühe gab, uns alle zu Feinden des NATO-Dop pelbeschlusses , der Atomkraft und vieler anderer Vorkommnisse zu machen. All das gelang ihm auch, jedenfalls bei den meisten, sogar denjenigen, die ich nach kurzer Zeit für Leute hielt, die sich im kapitalistischen System durchaus wohl fühlten. Was mich wirklich erstaunte, war die Tatsache, dass ich zu den wenigen zu gehören schien, die überhaupt bemerkten, was Herr Bährmann erfolgreich im Schilde führte. Ich warquasi per Geburt nicht Bestandteil einer Gruppe, die etwas von politischem Diskurs, Meinungsemanzipation und diesen Dingen verstand, aber vielleicht war es genau das: Weil ich Schüler von Herrn Kosczyk gewesen war, dessen Aufgabe in voller Klarheit darin bestanden hatte, uns zu sozialistischen Menschen zu erziehen, ohne dass es in dieser Hinsicht offene Fragen gab, erkannte ich in Herrn Bährmann eine Spielart dieses Vorgehens, und sehr viel subtiler war der Zopfträger mit den »Atomkraft? Nein danke!«-Ansteckern auch nicht. Aber meine Mitschüler liebten ihn, leisteten, von wenigen Ausnahmen abgesehen, geschlossen Gefolgschaft, und deshalb stand außer Frage, wer mit uns ins Elsass fahren würde, auf dieser letzten gemeinsamen Reise vor der Auflösung unserer Klasse.
     
    Leider wurde Herr Bährmann kurz vorher in irgendeine leitende Position eines Gremiums gewählt und musste unsere Begleitung zugunsten einer Tagung absagen. Das Geschrei war groß, bis eine von
den Sabines drei
auf die Idee kam, statt seiner Herrn Bonker zu fragen. Es gab in der Runde, die in der großen Pause im Klassenzimmer saß, um das Problem zu besprechen, einen Moment des Erschreckens, ein kurzes Innehalten wie in Gruselfilmen, wenn die Hauptfigur in den Keller geht, um zu prüfen, was die grausigen Geräusche bedeuten, die von dort kommen, und dann bleibt das Licht aus, obwohl sie den Schalter drei, vier Mal betätigt. Ich saß nur zufällig in der letzten Reihe, denn ich hatte bei solchen Runden nichts zu suchen, aber man bemerkte mich auch nicht.
    Der Moment verging, und dann brach Gelächter aus, das schnell zu Jubel wurde. Was für eine wahnsinnige Idee, ausgerechnet Herrn Bonker mitzunehmen, ein willfähriges Opfer, kein Widerstand zu erwarten, praktisch ein Freibrief für alles, was man sich nur vorstellen konnte. Vor allem in

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