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Sommerhit: Roman (German Edition)

Sommerhit: Roman (German Edition)

Titel: Sommerhit: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Liehr
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tatsächlichen.
    Christine war tatsächlich hübsch, was vor allem an ihren Augen lag, aber auch an den tiefschwarzen Haaren und der zierlichen Figur. Christine saß in unserer Klasse in der ersten Reihe, und wenn es etwas gab, das Herrn Bonker aus seinem autistischen Verständnis von Pädagogik riss, dann war es Chrissie, die ihre schlanken Beine in den engen Jeans aus der Position linker Oberschenkel auf dem rechten Oberschenkel in die umgekehrte manövrierte.
    »Falk Lutter«, sagte sie jetzt, sah mich irgendwie geringschätzig an und dann gleich wieder aus dem Busfenster. Ich wusste nicht, ob sie noch eine Erinnerung an unseren Abend vor zwei Jahren hatte, aber eigentlich war das auch egal. Der Bus fuhr wieder, hinter uns wurden Dosen und Chipstüten aufgerissen, Zigaretten angezündet, und wieder kam in mir das Gefühl auf, mit systematisch geplanter Bösartigkeit konfrontiert zu sein.
    Und dann geschah es. Für einen Moment war es still, danach begann ein neues Musikstück, eigentlich überaus konventionell, fast ein Schlager, mit einem Akkordeon als führendem Instrument, zurückhaltendem Schlagzeug, und das Ganze auch noch auf Französisch, von Jungs gesungen, dienur über Kopfstimmen und keine ganze Oktave Umfang verfügten. Es war längst nicht der erfolgreichste Titel in diesem Sommer, er erreichte nur Platz 6 der Hitlisten, aber er war
der
Sommerhit – und das Stück, das zu unserer Reise passte wie kein anderes: »Comment ça va?« von der holländischen Jungsgruppe »The Shorts«, einer Art von Formation, die man Jahrzehnte später »Boygroup« nennen würde und die von einem Komponisten und Manager erdacht, »gecastet« wurde, wie es heute heißt, wo Hunderte solcher Gruppen auf den Markt drängen, die sich die Studiotürklinken im Halbjahrestakt in die Hände geben – wenn man sie dort überhaupt braucht. Als der Refrain ertönte, grölte der komplette Bus lauthals und ziemlich falsch mit:
     
    Comment ça va
    Comme ci, comme ci, comme ci, comme ça
    Tu ne comprends rien à l’amour
    Restez la nuit, restez toujours
     
    Vor allem die zweite Textzeile brüllten sie nachgerade, »Kommssie, kommssie, komms
sah
!«, ein aggressives Geschrei, das die arme Frau Erdt vollends zusammenzucken ließ. Christine neben mir bewegte die Lippen mit, sah dann, dass ich sie beobachtete, hielt inne. In einer trotzigen Bewegung drehte sie das Gesicht zur Fensterscheibe.
Tu ne comprends rien à l’amour
, dachte ich sofort, und dann an Karen, die ich immer noch sehr vermisste.
     
    Zu dieser Zeit waren meine Leistungen in Englisch und Französisch bereits ganz in Ordnung, aber Frau Perpels Entscheidung, mich in einer zu niedrigen Klassenstufe unterzubringen, wurde niemals revidiert. Mama versuchte es kurz vor den Sommerferien 1981 abermals, aber unsere Rektorin, die zwar immer noch wie ein Papagei aus einem lichtlosen Dschungelherumlief, sich jedoch, wenn sie meinte, unbeobachtet zu sein, auf einer Bank im Flur niederließ, an der Lehne festhielt und brachiale Hustenanfälle hinter sich brachte, winkte einfach ab.
    Vor allem die Aussprache hielt mich anfangs ganz schön auf Trab, doch im Gegensatz zur rothaarigen Sabine, die es bis zum Abitur nicht schaffte, das Tie-Äjtsch vernünftig auszusprechen – was bei ihr immer aussah, als würde sie gleich flutwellenartig erbrechen –, bekam ich die Kurve im zweiten Jahr. Englisch war im Vergleich zu Russisch beispielsweise fast simpel, aber Französisch liebte ich. Bis heute habe ich nicht verstanden, warum Musik mit englischen Texten so viel erfolgreicher ist als solche mit französischen, die einfach melodiöser klingen, oder deutschsprachigen, die man schlicht und ergreifend leichter versteht.
    Das Stück endete, »Flashdance« von Irene Cara begann, aber kurz darauf riss Gerald, den wir Gerry zu nennen hatten, an meiner Lehne, weil er von hinten zum Busfahrer stürmte, mit einem Grinsen im Gesicht, das Züge von Irrsinn hatte, während er sich beidarmig an den Sitzen entlanghangelte, als wäre er ein Armeerekrut beim Überwinden eines Hindernisparcours. Kurz darauf ertönte das Quietschen einer Musikcassette, die im Wiedergabemodus zurückgespult wird, und dann abermals und noch etwas lauter das Intro von »Comment ça va«. Als Gerry auf dem Rückweg ins Heck bei mir ankam, blieb er stehen, sah mich an, als wäre ich eine Alkoholrauschillusion, und brüllte mir die zweite Textzeile aus nächster Nähe ins Gesicht, wobei sein sprühender Speichel auf mich

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