Sommerhit: Roman (German Edition)
und ahnte durchaus, dass es zwingende Umstände gegeben hatte, hatte geben
müssen
,um sie diesen drastischen Weg gehen zu lassen. Doch da mir die Erklärung hierfür noch fehlte, gab ein Teil von mir ihr und Klaus-Peter die Hauptschuld für diese Katastrophe, zu der unsere Leben geworden waren.
Wir hielten einander lange fest.
»Ich vermisse sie ganz schrecklich«, sagte Mama und starrte mich an, ohne mich anzusehen. »Ganz, ganz schrecklich.«
»Ich auch.« Mehr konnte ich nicht sagen, weil es nur dazu geführt hätte, dass sich der ohnehin kaum zu ertragende Schmerz noch weiter verstärkte.
Trotz all dieser Tiefschläge und Stimmungsschwankungen war meine Mutter tagsüber diszipliniert. Schon kurz nach unserer Ankunft in Berlin (West) meldete sie sich für eine Fortbildung an, die es ihr ermöglichen sollte, auch hier in ihrem Beruf als Krankenschwester zu arbeiten, und sie kümmerte sich um meine schulischen Belange, sah sich sogar nach einer Wohnung um, was zu dieser Zeit in Berlin alles andere als einfach war, weshalb es auch erst ein Jahr später klappte. Aber gerade dieses Umschalten von zielgerichteter Pflichterfüllung auf emotionales Chaos überforderte mich. Außerdem hatte ich mit meinen eigenen Gefühlen zu kämpfen, die aus Sorge um meine Mutter, Angst um Sonja und Papa, einem generellen, fundamentalen Missfallen an der Situation, in der wir uns in vielerlei Hinsicht befanden, und großem, großem Liebeskummer bestanden. Ich vermisste Karen sehnsüchtig. Und ich wusste weder ihren Nachnamen noch ihre Adresse. Eines Abends, als ich alleine in der Wohnung war, rief ich bei der Auskunft an und sagte, ich wolle einen Herrn sprechen, dessen Vorname Manfred lautet und der in Ingolstadt wohne. Die Frau am anderen Ende der Leitung lachte nur.
Im Frühjahr 1981 beruhigte sich Mama etwas, lächelte sogar manchmal wieder und sprach mit mir auch über meine Probleme.Wir gingen zusammen ins Kino, in den Zoo oder in den Tiergarten, wo wir durch Schneematsch stapften und, wie ich deutlich spürte, keine Ahnung davon hatten, wo wir uns eigentlich befanden. Und endlich erzählte sie mir auch, wie es zu all dem hatte kommen können. Warum wir es trotzdem getan hatten. Warum Papa geblieben war.
Sie hatten schon zwei Jahre vorher über Jürgen Kontakt mit einer westdeutschen Fluchthilfeorganisation aufgenommen. Treibende Kraft bei dieser Angelegenheit war mein Vater, der offenbar das Leben in der DDR auf eine Weise hasste, die mich verblüffte, denn abseits seiner sarkastischen Scherze über das Schlangestehen hatte er es uns gegenüber niemals thematisiert. Es musste schon jahrelang in ihm gebrodelt haben, aber seit dem erzwungenen Umzug in den kleinen Ort bei Dresden, dem ein ebenso erzwungener Abbruch seines Ingenieurstudiums vorausgegangen war, war es immer heftiger geworden.
»Sie hätten es herausbekommen«, sagte Mama, während wir einen Mann passierten, der auf einer feuchten Parkbank saß und in einer von sechs zerfledderten Einkaufstüten nach irgendwas suchte. Der Mann roch nach Urin, Kot, Schnaps, Rauch, fauligem Eiter, jahrelang ungeputzten Zähnen und noch etwas anderem, das von seinen Füßen aufstieg, aber in keiner Weise dem Geruch von Arndts Käsemauken ähnelte. Es hatte eine stark animalische Komponente, aber viel stärker und bestialischer als in Jürgens Schweinestall.
»Es war schon zu spät«, fuhr sie fort. »Vielleicht hätte es noch ein paar Wochen oder Monate gedauert, aber sie wären uns auf die Schliche gekommen. Und dann wäre alles noch viel schlimmer geworden.«
Ich stutzte und setzte zu einem Widerspruch an, ließ es aber. Eine schlimmere Zeit als diese, genau jetzt, hatte ich jedenfalls noch nie erlebt. Aber ich wusste nichts, und ich war gerade mal fünfzehn, das war mir durchaus klar.
»Klaus-Peter fühlte sich verantwortlich.« Ich sah meine Mutter an und spürte den Schmerz, den sie empfand, als sie seinen Namen aussprach, was sie mir gegenüber höchst selten tat. »Wir haben lange Gespräche darüber geführt. Ich hätte zurückgehen können. Einer von uns musste zurückkehren. Wir konnten Sonja doch nicht alleine lassen.«
Ich wusste nicht, was ich zu all dem sagen sollte. Mein bequemes Kinderleben war keine Position, von der aus man diese Dinge beurteilen konnte. Ich hielt Freiheit nach wie vor für eine Idee und nicht für eine Kategorie, es gab nicht viel, das mich an meinem Heimatland gestört hatte, aber vielleicht hätte sich das bald geändert. Ein Teil von
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