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Sommerhit: Roman (German Edition)

Sommerhit: Roman (German Edition)

Titel: Sommerhit: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Liehr
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am Nachmittagzuvor neben ihm unter der Plane gehockt hatte. Der vom Blitz getroffene Baum, der sich über den Weg neigte, ihn aber nicht versperrte, hatte ihm die Möglichkeit gegeben, die er benötigte, um aus grauem Material, wahrscheinlich den Hosenbeinen seiner Anzüge, eine Art Tau zu drehen, das Ganze um einen seitlichen, starken Ast zu knoten und sich daran aufzuhängen. Er trug seine Wanderkleidung, der Hut lag in einer Pfütze am Boden. Sein Kopf war leicht verdreht, hing in einem Dreißig-Grad-Winkel in der Schlaufe, seine Augen waren geöffnet, aber blicklos, die Zunge hing aus dem weit geöffneten Mund, bläulich-violett wie sein Penis, und sein linkes, halbnacktes Bein glänzte von frischer Feuchtigkeit. Es roch nach Wald und Schmutz und Angst und Urin, während wir stumm herumstanden, nur Chrissie stampfte fortwährend auf, schlug mit einer Hand nach Gerry, Henning und Thomas, hielt sich die andere vor den Mund, suchte mit irrem Blick nach irgendwas, das sie fixieren könnte, um sich hiervon abzulenken.
    »Es ist nicht deine Schuld«, log Gerry und griff nach ihrer herumfuchtelnden Hand.
    »Keinen Mucks über das, was hier passiert ist«, brüllte Thomas. »Keinen Mucks, oder ihr werdet das bereuen.«

Einschnitte (1984)
     
    Die vorläufig bemerkenswerteste, offenkundigste Folge der Ereignisse in Frankreich war ein Artikel auf Seite 3 der BILD, der mit »Die Todesklasse aus dem Elsass« überschrieben war und von einem Klassenfoto beherrscht wurde, das von uns kurz vor Antritt der Reise aufgenommen worden war, mit mir in der ersten Reihe, zwar am linken Rand, aber gut erkennbar – vor allem aufgrund meiner Körperfülle. Im Text ging es kurz, aber reißerisch um jenes vermeintlich traumatische Erlebnis, das unschuldige Schüler während einer Klassenfahrt hatten durchmachen müssen, als sie ihren Lehrer tot im Wald (man bezeichnete ihn als den »elsässischen Todeswald«) vorfanden. Kein Wort über die Hintergründe, fast nichts über Herrn Bonker (»angesehener Gymnasial-Geschichtslehrer, Motiv unklar«) und natürlich auch nichts über Chrissie, Thomas, Gerry, Henning und die anderen Drahtzieher der Aktion, die Herrn Bonker in den Selbstmord getrieben hatten. Ich erfuhr von diesem Artikel erst ein paar Wochen nach unserer Rückkehr.
     
    Die Klasse löste sich auf, verteilte sich auf Grund- und Leistungskurse, in denen wir neben anderen Schülern aus unserem Jahrgang saßen, die wir zuvor nur auf dem Schulhof und bei Zusammenkünften in der Aula gesehen hatten. Ich wählte »Politische Weltkunde« ab, um Herrn Bährmann, vor allem aber meine ehemaligen Mitschüler so selten wie möglich sehen zu müssen – ganz ließ sich das nicht vermeiden –, die fast geschlossen diesen Kurs wählten. Ich belegte einen Leistungskurs in Musik und einen in Deutsch, gemeinsam mit dem drittenMartin, und zählte die Tage, die ich noch am Walter-Gropius-Gymnasium würde verbringen müssen. Die Erlebnisse in Frankreich aber ließen mich nicht los. Es gab fast keinen einzigen Tag während der folgenden Monate, an dem ich nicht an Herrn Bonker dachte, an die Augenblicke am See, die Minuten unter der Plane – und seinen Anblick, wie er am Baum hing, die eigene Pusche auf der Hose, die blau-violette Zunge, die aus dem Mund heraushing, und Chrissies wütend-verstörtes Herumstampfen auf dem dampfenden Waldboden, weil sie sich zu Recht die Schuld daran gab, was sie anzuschauen gezwungen war. Es beschäftigte mich sogar mehr als die Gedanken an Sonja, meinen Vater, Ungarn, Karen und diese Dinge. Hin und wieder war ich der Verzweiflung nahe, weil ich überlegte, was ich hätte tun können, um zu verhindern, was geschehen war. Ich hätte Herrn Bonker warnen können. Ich hätte Françoise und Bertrand informieren müssen. Vielleicht sogar mit der verhuschten Frau Erdt reden, möglich durchaus, aber nicht eben wahrscheinlich, dass sie sich unter diesem Druck zur energischen Kämpferin entwickelt hätte. Die Polizei rufen, mit Frau Perpel telefonieren, irgendwas. Stattdessen hatte ich meine Angst regieren lassen, war zum Mitläufer und Mittäter geworden. Auch ich hatte im Gang gestanden, vor Herrn Bonkers Tür, inmitten dieser Horde bösartiger Menschen.
    Es wurde nicht thematisiert, jedenfalls nicht in meiner Gegenwart. Die Cliquen schienen zu halten, nach wie vor, und ich wich ihnen aus, wenn sich die Gelegenheit oder Notwendigkeit ergab. Arndt sah ich nur noch im Englisch-Grundkurs, aber er saß weit entfernt von mir und gab

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