Sommerhit: Roman (German Edition)
sich noch scheuer als zuvor, wenn das möglich war. Tine, Heiko und den anderen Verlierern begegnete ich hin und wieder, aber wir beschränkten uns auf genickte Grüße, teilten offenbar die Meinung, dies hier und damit alles andere möglichst schnell und konfliktfrei hinter uns bringen zu wollen.
Aber das fiel mir nicht leicht. Ich schämte mich unendlich, trauerte eigenartigerweise um Herrn Bonker (Frau Erdt war gleich nach der Reise auf eine Grundschule gewechselt) und wurde das Gefühl nicht los, noch etwas tun zu müssen, um diese Schuld ein wenig zu verringern. Natürlich würde, was auch immer ich täte, nicht etwas daran ändern, dass der stoische, ewig lächelnde Geschichtslehrer in den Selbstmord getrieben worden war, und all das wäre vielleicht auch nicht geschehen, hätte er am See und später in seinem Kabuff nicht getan, was er eben getan hatte, aber etwas in mir wollte nicht zulassen, dass Gerry, Henning, Thomas, Chrissie, all die anderen und auch ich selbst einfach so davonkamen, mit einem Menschenleben auf dem Gewissen, das vielleicht kein großartiges und sicher kein fehlerfreies gewesen war, aber ebenso sicher auch keines, das man einfach einem feigen, fiesen Scherz opfern durfte. Ich haderte mit der Situation, lenkte mich dadurch ab, dass ich wie ein Irrer lernte oder ganze Jackson-Browne-Alben auf
Karen
nachspielte.
Das Triumvirat beobachtete uns, wie ich durchaus zur Kenntnis nahm. Diese Observierung galt nicht nur mir, sondern fast allen anderen ehemaligen Mitschülern. In den großen Pausen huschten die drei über den Hof, suchten nach uns, fixierten uns, wenn wir ihre Blicke erwiderten, und vermittelten eine deutliche Botschaft: Das, was Herrn Bonker zugestoßen ist, ist nichts gegen das, was dir passieren wird, wenn du die Fresse aufreißt. Einerseits befriedigte mich diese offenkundige Unsicherheit, diese Angst vor uns Schwächlingen und Verlierern, die etwas wussten, das die selbstherrlichen, selbsternannten Anführer zu Fall bringen könnte, aber andererseits war die Drohung auch eine ernste. Ich traute ihnen alles zu. Gut, sie waren keine Mafiabosse, die noch aus der Todeszelle die Hinrichtung anderer würden befehlen können, aber sie verfügtenüber Macht und die Fähigkeit, andere zu manipulieren – mit ungewissen, aber bedrohlichen Konsequenzen für jeden, den es treffen würde. Das war die Botschaft, die die Ereignisse im »elsässischen Todeswald« zusammenfasste. Und: Sie hatten starke Verbündete, wie ich später zu meinem großen Entsetzen erfuhr.
Ich erwog, mit meiner Mutter über die Situation zu reden. Sie arbeitete inzwischen im Neuköllner Krankenhaus, sammelte Überstunden wie andere Briefmarken, putzte unsere Wohnung zwei Mal am Tag und befand sich ansonsten in einer sehr schweigsamen Phase. Immerhin sah sie sehr viel besser aus als noch vor zwei, drei Jahren, sie ging nicht mehr trinken oder zu Schlimmerem, aber sie hatte sich abgekapselt, ohne mich tatsächlich auszugrenzen. Mama fragte mich ständig, wie es mir ging, bot mir Hilfe an, steckte mir kleine Geldscheine zu und räumte mein überschaubares Zimmer auf, obwohl ich selbst regelmäßig für Ordnung sorgte, weil ich mich offenbar zu jemandem entwickelte, der Ordnung mochte. Aber ich wusste, dass sie sich auf diese Art ablenkte, dass sie Konflikte mied, um nicht auf jenen gestoßen zu werden, der ihr Wesen und ihr Dasein beherrschte – die Tatsache, dass von Papa und Sonja nach wie vor nichts zu erfahren war.
Was täte sie, wenn ich ihr von dieser Sache erzählte? Sie würde vielleicht mit mir zur Polizei gehen, oder zu Frau Perpel, deren Tage am Walter-Gropius-Gymnasium höchstens noch zweistellig waren. All das würde nichts nutzen. Die Polizei würde nur wenig tun, weil es vermutlich keinen Straftatbestand gab, den zu verfolgen sich lohnte, und Frau Perpel würde sich eher ihre verrottenden Lungenflügel herausreißen oder gar mit dem Rauchen aufhören, als den Ruf ihres Gymnasiums zu riskieren.
Ausschlaggebend dafür, dass ich dem Gedanken schließlich nachgab, auf irgendeine Art aktiv zu werden, war das, was mit Chrissie geschah. Während die anderen ganz offenkundig ihre Schuld, ihre Täterschaft vor sich selbst leugneten und sich, so wie das viele DDR-Funktionäre und sogar »einfache« Bürger nach der Wiedervereinigung taten, die Vergangenheit schönredeten, gelang das der zarten, grünäugigen Christine nicht. Nach der desaströsen Klassenfahrt fehlte sie für zwei Monate, und es
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