Sommerhit: Roman (German Edition)
hielt ihr Phlegma deshalb für einen Schutzmechanismus.
»Aber stell dir vor, was mit uns passiert, wenn wir uns weigern«, antwortete Martin ebenso leise. Arndt seufzte erbärmlich. Seine Super-8-Kamera lag neben ihm auf dem Bett, manchmal streichelte er sie leicht abwesend.
Dann kam das Geräusch. Sie hatte nackte Füße, und ich schnupperte, ob sonst etwas von ihr wahrzunehmen war, aber im schlecht gelüfteten Vier-Jungen-Zimmer, das nach Arndts fantastischem Fußaroma und immer noch nach Resten der Schweinescheiße-Attacke roch, war das unmöglich. Ein leises, leicht scharrendes Klopfen war zu hören, dann wurde es still. Fünf Minuten lang geschah nichts, bis plötzlich eine Art niederfrequentes, kaum hörbares Zischen ertönte, das von vielen Füßen in Socken verursacht wurde, deren Träger sich umGeräuschlosigkeit bemühten. Es folgte ein sachtes Klopfen an unsere Tür. Wir erhoben uns, mit leeren Blicken, öffneten die Tür vorsichtig, vorne ich, hinter mir in der Hackordnung die anderen. Der Gang war gefüllt mit unseren Mitschülern, von denen einige grinsten, aber am Rand stand das Triumvirat und beobachtete uns aufmerksam, quittierte unsere Teilnahme mit Kopfnicken. Es war wie ein Zählappell, wie bei der FDJ. Ich schämte mich, nahm aber zur Kenntnis, dass Arndt seine Kamera in der Hand hielt, leicht versteckt hinter dem Rücken.
Dann folgte Stille, Schüler sahen einander an oder zu Boden, atmeten flach, machten sich vielleicht Gedanken darüber, ob das richtig war, was wir zu tun im Begriff waren, und plötzlich kam der Schrei, das Zeichen – viele erschraken, vielleicht, weil sie endlich begriffen, was hier passierte. Gerry machte zwei Schritte vor, riss die Tür zum Zimmer von Herrn Bonker auf, und gleich darauf drängten sich alle in die Öffnung, um besser zu sehen. Die, die in der zweiten, dritten Reihe standen, stiegen auf die Zehenspitzen und stützten sich auf die Schultern der anderen vor ihnen. Sie waren wie Gaffer, die bei einem Verkehrsunfall auf der Gegenfahrbahn Vollbremsungen hinlegen, um ihre Sensationsgier zu befriedigen.
Christine stand in der Nähe der Tür, in Slip und Hemdchen, und vor ihr saß Herr Bonker auf einem Stuhl, mit glänzendem Gesicht, und hielt seinen Penis in der Hand, halbsteif, unangenehm groß, grauviolett und faltig. Es war sogar noch eine leichte Bewegung in seinem Unterarm. Das Zimmer roch faulig, außerdem nach Käse und Salami.
Ein paar Mädchen schrien »Ihhh!«, und erst jetzt gab es eine Reaktion aufseiten des Lehrers. Während sich Chrissie umdrehte und zwischen uns hindurchdrängte, mit einem fiesen, belustigten Gesichtsausdruck, fiel sein festgetackertes Lächeln in sich zusammen. Innerhalb von Sekunden alterte HerrBonker, aus dem alten Kind wurde ein alter Mann mit gequältem, verletztem Gesicht, dessen Augen jeden Glanz verloren.
»Kinderficker«, schrie Gerry. »Mieser Kinderficker.«
Dabei machte er einen Schritt nach vorne und zog die Tür zu, zur Erleichterung aller.
Wir schlurften der Gruppe hinterher, einige lachten, die meisten aber starrten stumm vor sich hin, Thomas machte irgendeinen faden Witz, legte seinen Arm auf Chrissies Schulter, die ihren Oberkörper kurz hin und her drehte, um die Hand wieder abzuschütteln. Hinter uns ging eine Tür auf und wurde gleich wieder geschlossen, ein feminines Husten war zu hören und noch irgendein Geräusch, das mich zusammenzucken ließ, ein leises Wimmern aus dem Zimmer auf der anderen Gangseite.
»Solche Leute sind mies, sie müssen bestraft werden«, sagte Gerry nickend, eine Bierflasche an den Lippen, und dabei ließ er den Blick über uns wandern. Ich stimmte ihm zu, es war mies, solchen Trieben nachzugeben, aber es war fast noch mieser, Lynchjustiz zu verüben, öffentlich zu demütigen, daraus einen Klassenreisescherz zu machen. Ich fühlte mich elend, stand auf, ignorierte die »Ostler, bleib hier«-Rufe und überlegte, was zu tun war, um von hier abzuhauen, nach Hause zu fahren, zu meiner einsamen, kämpferischen Mutter. Ich wollte weg, weg von diesen Leuten, weg aus diesem Land, weg aus allen Ländern.
Aber die Entscheidung wurde mir abgenommen.
Herr Bonker erschien nicht zum Frühstück. Er blieb den ganzen Vormittag über verschwunden, war auch nicht in seinem Zimmer, wie irgendjemand sagte. Ironischerweise war es Chrissie, die auf ihn stieß, auf dem Weg zum See, zum Baden, gemeinsam mit zwei anderen Klassenkameradinnen. Es war nicht weit von der Stelle entfernt, an der ich
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