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Sommerhit: Roman (German Edition)

Sommerhit: Roman (German Edition)

Titel: Sommerhit: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Liehr
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gingen bereits Gerüchte, sie wäre mit ihrer Familie umgezogen, irgendwohin aufs Land, oder gar in eine psychiatrische Klinik eingewiesen worden. Ich glaubte nichts davon, denn es hätte eine starke Verunsicherung der Akteure zur Folge gehabt, die, wie ich annahm, aus erster Hand wussten, wie es um das Mädchen stand, dessen Rolle an jenem Abend eine Hauptrolle in der Tragödie gewesen war. Wenn sich Chrissie auf die eine oder andere Art tatsächlich der Umklammerung durch die Cliquenchefs entledigt hätte, durch einen Umzug oder einen langen Klinikaufenthalt, hätte sie auch den Mund aufgemacht, dessen war ich mir sicher. Aber abseits der intensiven Beobachtung, die sie uns zukommen ließen, zeigten Gerry, Henning, Thomas und die anderen keine Anzeichen aufkommender Panik. Ihr enormes Selbstbewusstsein war zwar beschädigt worden, aber sie gaben sich weiterhin lässig, also
cool
, und demonstrierten ihren unveränderten Machtanspruch, wo sie nur konnten.
     
    Im September kehrte sie ins Walter-Gropius-Gymnasium zurück. Ich begegnete ihr morgens um kurz vor acht vor dem Schultor, wo ich auf den dritten Martin wartete, mit dem ich im ersten Block ein Referat über Hesses »Steppenwolf« zu halten hatte – ein Buch, über das ich mich während der vergangenen Tage unglaublich geärgert hatte. Bevor Martin kam, hielt neben mir eine Ente, ein Citroën 2CV, das vielleichteinzige westliche Auto, das in Bezug auf Spartanität, Fahrleistung und -sicherheit mit DDR-Fahrzeugen konkurrierte: ein ausladend blechernes, zerdrücktes, in diesem Fall orangefarbenes Ei auf stelzenähnlich angebrachten, viel zu schmalen Reifen, dessen Fahrgeräusch zwar keine Ähnlichkeit mit dem Dängderäng des 601 meiner Eltern hatte, das aber ansonsten keines der Merkmale aufwies, für die
Teams
in den Fabriken rund um die Uhr schufteten, etwa sanfte, wohltönende Türgeräusche. Ich fand dieses Auto sympathisch.
    Chrissie stieg auf der Beifahrerseite aus, das Fenster der Tür klapperte, als sie von ihr zugeschlagen wurde, und dann stand sie neben mir.
    Christine hatte bisher wie alle anderen Mädchen gerochen, nach dezentem Schweiß, Waschmittel, Shampoo, gelegentlich einem billigen Parfüm, aber heute verströmte sie ein Aroma, das mich stutzen ließ, mehr noch als ihr verändertes Aussehen, denn sie war unglaublicherweise schmaler als zuvor, ihre Augen lagen tief in den Höhlen, und ihr Haar war zwar geordnet, wirkte aber trotzdem irgendwie struppig, filzig und stumpf.
    An diesem Morgen haftete ihr ein neuer Geruch an, ein chemischer, der mich an die Zeit bei der »Praktischen Arbeit« denken ließ, den intensiven, trotz des Ölgestanks in der Halle wahrnehmbaren Duft der Plastestücke, deren Gussgrate ich abgefeilt hatte, ohne zu wissen, welchem Zweck die weißgrauen, länglichen Bauteile dienten. Christine roch nach Medikamenten. Als sie mich jetzt ansah und ihren Kopf dann wie in Zeitlupe von mir wegdrehte, genau wie eines der Playmobil-Männchen, die wir für Arndts Filme millimeterweise umgesetzt hatten, war ich sicher, dass sie Psychopharmaka nahm, vermutlich nicht wenige. Ähnlich verlangsamt setzte sie sich jetzt in Bewegung, schlich durch das Schultor, die gebatikte Umhängetasche nachlässig über der Schulter. Ich sahzum Citroën, in dem Chrissies Mutter saß, die der Tochter sorgenvoll hinterherstarrte.
     
    Weil es der einzige Leistungskurs war, der nicht wegen gnadenloser Überbelegung aus allen Nähten platzte, landete die Rückkehrerin zwei Reihen hinter mir im Musik-LK. Während Herr Lewandowski, ein greiser Zwerg jenseits der sechzig, mit rotweißem, sehr schütterem Haar, Vorträge über Geigenbau und die Geschichte der Violine hielt – seine Begeisterung für Streichinstrumente sprang allerdings nicht so recht auf die Schüler über –, hockte Chrissie zusammengesunken an ihrem Platz, die schmalen Hände vor sich gefaltet wie eine Betende, und sah geradeaus ins Nichts. Sie nahm am Unterricht praktisch nicht teil, stand bei Gesangsübungen zwar auf, bewegte ihren Mund jedoch nicht. Auf konkrete Bitten von Herrn Lewandowski, etwas zu sagen, reagierte sie mit Schweigen. Immerhin schien sie schriftlich mitzuarbeiten, und wahrscheinlich gab es Absprachen zwischen ihren Eltern und Frau Perpel, denn es war offensichtlich, dass sie nicht dazu in der Lage war, ernsthaft ihr Abitur vorzubereiten. Wenn man darauf hoffte, dass sich der Zustand irgendwann von selbst ändern würde, hoffte man vergeblich. Hin und wieder weinte sie

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