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Sommerhit: Roman (German Edition)

Sommerhit: Roman (German Edition)

Titel: Sommerhit: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Liehr
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plötzlich, stumm, mit weit aufgerissenen Augen, oder sprang auf, rannte aus dem Schulzimmer und kehrte nicht zurück. Martin, der zwei andere Kurse mit ihr hatte, erzählte mir, dass es dort nicht anders war. Und es wurde beinahe täglich schlimmer. Im Dezember fehlte sie für zwei Wochen, im Februar fast drei, und wenn sie zurückkehrte, roch sie umso intensiver nach Medikamenten, war noch weiter abgemagert, steigerte ihre Verschlossenheit und ihre stummen Traurigkeitsausbrüche ins Unermessliche. Es war nur eine Frage der Zeit, bis man sie von der Schule nehmen und tatsächlich in eine psychiatrische Klinik einweisen würde.
     
    An einem Mittwoch im März 1984 fand ich mich plötzlich vor dem kleinen Büro neben dem der Rektorin, an dessen Tür ein Schild mit der Aufschrift »Vertrauenslehrer« hing. Ich hatte mich zuvor hin und wieder gefragt, was dieser Titel bedeutete und was seinen Träger von anderen Lehrern unterschied – und ob man zu diesen möglicherweise
kein
Vertrauen haben sollte. Vertrauenslehrer, das war offenbar jemand, den man anzusprechen hatte, wenn es um schulische Belange ging, die nicht direkt mit dem Unterricht zu tun hatten oder in diskreditierender Weise andere Lehrer betrafen, wenn man persönliche Nöte, Sorgen, Ängste hatte, wenn man einfach als Oberschüler mit jemandem sprechen wollte, der das vertraulich behandeln würde – etwa in Fragen, bei denen es um Sex, Drogen und ähnliche Dinge ging. Als ich jetzt auf dieses Schild starrte, schien es mir eine gute Idee zu sein, in das Büro zu marschieren und wem auch immer davon zu erzählen, was im Elsass geschehen war.
    Der Vertrauenslehrer hatte montags und mittwochs in den großen Pausen und am Freitagvormittag bis zwölf Uhr Sprechstunde. Ich wusste nicht, wer der Vertrauenslehrer war, und ich wusste genauso wenig, wie er gewählt oder in sein Amt berufen wurde. Trotzdem war ich überrascht, als jetzt die Tür aufging und ich zwei bekannte Gesichter sah – das von meinem Mitschüler Thomas und das – es kam mir sofort irgendwie logisch vor – von Herrn Bährmann. Thomas hatte die Klinke in der Hand und verabschiedete sich, Herr Bährmann saß hinter einem kunststoffbeschichteten Schreibtisch und drehte sich eine Zigarette.
    Beide sahen mich an. Herr Bährmann lächelte unverbindlich, konzentrierte sich aber sofort wieder auf das Blättchen und den faserigen Tabak, wohingegen Thomas stehen blieb und die Rattenhaftigkeit seines Gesichtsausdrucks auf unerwartete Weise steigerte.
    »Falk«, stellte er fest, langsam, als hätte er erst überlegen müssen, wie ich hieß.
    Ich nickte. Ich hatte Angst. Noch mehr als ohnehin.
    »Thomas«, erwiderte ich leise.
    »Probleme?«, fragte er. Sein Lächeln war so fies, dass man es für transsylvanische Briefmarkenmotive hätte benutzen können.
    »Wie man’s nimmt«, murmelte ich halbwegs schlagfertig. Herr Bährmann blickte auf, hielt sich die unförmige Selbstgedrehte vors Gesicht.
    »Nur herein!«, rief er.
    Ich atmete tief ein, durch die Nase, um mich mit den Gerüchen abzulenken, aber das misslang. Ich roch nur Angst, Misstrauen, Feindseligkeit und die Chance auf noch größeres Unglück.
    »Ich wollte nur mal schauen«, sagte ich schwach.
    »Mal schauen, so, so.« Thomas fixierte mich, wie es ein Nagel mit einem dünnen Brett tut, und ich kam nicht einmal auf die Idee, die Gegenfrage zu stellen, was er eigentlich beim Vertrauenslehrer suchte. Außerdem war diese Frage obsolet – Herr Bährmann traf sich mit den Cliquen aus meiner ehemaligen Klasse immer noch regelmäßig, duzte sich mit ihnen. Wahrscheinlich trafen sie sich immer hier, montags, mittwochs, und am Freitag vor zwölf Uhr. Vielleicht war er nur für sie da.
    Die Pausenklingel rettete mich. Ich drehte mich auf dem Absatz um und rannte einfach davon.
     
    Wochenlang geschah nichts. Ich hatte zwar das starke Gefühl, noch intensiver beobachtet zu werden als zuvor, redete mir aber ein, dass es Einbildung sein musste. Bis Thomas, Gerry und Henning damit anfingen, mir Zeichen zu geben.
    Sie waren wenig subtil und wirkungsvoll. Gerry kam mir im breiten Flur entgegen und rempelte mich an, obwohl genugPlatz war, und er entschuldigte sich anschließend auf fast schon unterwürfige Weise. Das geschah vier, fünf Mal kurz nacheinander. Henning drehte sich mehrfach im Chemie-Grundkurs zu mir um und nieste mir ins Gesicht, reichte mir aber sofort ein Taschentuch und schüttelte anschließend minutenlang meine Hand, wobei er mich

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