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Sommerhit: Roman (German Edition)

Sommerhit: Roman (German Edition)

Titel: Sommerhit: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Liehr
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entlassen, dann kippte er wieder um, ganz plötzlich, vor acht Wochen. Er kam ins Auguste-Viktoria, und dort haben sie dann die Diagnose gestellt.«
    »Leukämie.«
    »Ja. Es fand sich auch recht schnell ein Knochenmarkspender, Arndti kam auf eine Isolierstation, weil sie sein Immunsystemlahmlegen mussten. Und das hat nicht funktioniert, er fiel ins Koma. Sie haben ihn aufgeweckt und es mit Chemotherapie versucht. Zwei Tage später war er tot.« Sie seufzte laut und auf erschütternde Weise mit offenem Mund.
    »Vor einem Monat war das, er ist einfach nicht mehr aufgewacht. Mein Junge war von einem Tag auf den anderen tot. Können Sie sich das vorstellen?« Endlich wanderte ihr Blick vom Fenster wieder zu mir. Er war so traurig wie der meiner Mutter, als wir in jener Freitagnacht das ehemalige FDGB-Heim in Kühlungsborn verließen, um uns ein Quartier zu suchen.
    Ich konnte es mir tatsächlich vorstellen, weil ich während der vergangenen zehn Jahre viele Dinge erlebt hatte, die in eine ähnliche Kategorie fielen, aber damit wollte ich die alte Dame im lila Hauskleid nicht behelligen. Also schüttelte ich den Kopf.
    »Das wünscht man niemandem«, sagte sie.
    »Niemandem«, wiederholte ich. Die Katze streckte ihre Pfoten und gähnte lautlos. Sie war schneeweiß. Plötzlich wusste ich den Titel für mein erstes Soloalbum.
    Frau Bühler bückte sich umständlich und zog die Umzugskiste zu sich heran.
    »Ich weiß nicht, was das für Zeug ist«, sagte sie. »Ich habe nie verstanden, warum er so viel Zeit für diese Dinge aufwendete. Arndt war ein ausgezeichneter Mathematiker, wissen Sie?«
    Nein, das wusste ich nicht. Von der Filmerei, seinen unglaublichen Käsefüßen, dem schwammigen Riesenbaby-Gesicht, dem Erdbeeraroma aus seinem Mund und seinem stoischen Gleichmut abgesehen, gab es eigentlich nichts, was ihn für mich ausgezeichnet hatte.
    »Ach so«, sagte ich deshalb eher leise vor mich hin. Dann verfielen wir beide in längeres Schweigen.
    »Ich bin müde«, sagte sie irgendwann und sah an mir vorbei zum Vertiko. »Möchten Sie einen Schnaps? Ich könnte jetzt einen vertragen.«
    Ich nickte höflich und trank drei Gläser Eierlikör mit ihr, schnappte mir nach einer langen Verabschiedung die Kiste und torkelte im gleißenden Licht der Junisonne zurück zu meinem Benz, Arndts filmischen Nachlass mit beiden Armen vor der Brust umschlungen.
     
    Noch am gleichen Nachmittag verdunkelte ich die Fenster, baute den rasselnden Super-8-Projektor auf und richtete ihn auf die weiße Raufasertapete meines Wohnzimmers. Die Kiste war voller Filmspulen, nur wenige davon waren beschriftet, und ich begann mit den kleineren schwarzen Doppelscheiben. Die ersten drei enthielten die Animationsfilme, die ich mitproduziert hatte. Jetzt, fast ein Jahrzehnt später, sah ich erstmals die Ergebnisse unserer gemeinsamen Arbeit, Tage und Wochen der Figurenverschieberei reduziert auf jeweils dreieinhalb Minuten. Verblüffenderweise war damals keiner von uns beiden auf den Gedanken gekommen, dass wir uns diese Filme gemeinsam anschauen könnten. Arndt hatte es wahrscheinlich sehr häufig getan, worauf auch die vielen Kratzer hindeuteten, die sich jetzt als von links nach rechts über die Raufaserleinwand flackernde Störungen zeigten, aber nach meiner Erinnerung hatte ich keinen einzigen dieser Streifen jemals zu Gesicht bekommen.
    Die vierte Spule zeigte Arndt selbst. Die Kamera in fixierter Position, Kunstlicht fehlte. Ich erinnerte mich daran, dass er begeistert davon erzählt hatte, wie lichtstark seine neue Ausstattung war, was aber leider nicht zur Folge gehabt hatte, bei unseren Trickproduktionen auf die stinkende Halogenlampe zu verzichten.
    Arndt saß an seinem kindischen Schreibtisch. Anfangs wareine kurze Bewegung zu erkennen, vermutlich legte er den Fernauslöser beiseite. Und danach sah er drei Minuten lang nur in die Kamera, fast unbewegt, mit einem entfernt ironischen Ausdruck, der mich kurz an Minka denken ließ. Sein unförmiges Gesicht schien zu verschwimmen, als wäre es nur eine Maske, als existierte ein zweites, perfekteres dahinter. Dann gab es, ganz kurz vor Schluss, eine leichte Veränderung, den Anflug eines Lächelns, und der Film endete.
    Die Animationsfilme waren nicht weniger verstörend. Sie zeigten Gewalttätigkeit, die ich erst jetzt, in der fließenden Abfolge, erkannte. Gruppen, die Einzelne verfolgten, die versuchten, ihren Willen aufzuzwingen. Arndt hatte wirklich Talent gehabt, und er hatte etwas zu sagen

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