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Sommerhit: Roman (German Edition)

Sommerhit: Roman (German Edition)

Titel: Sommerhit: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Liehr
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versucht, ohne zu wissen, wem.
    Danach nahm ich eine größere Spule zur Hand, die aber nur zur Hälfte mit Filmmaterial gefüllt war. Sie begann mit einer Gruppenszene: unsere ehemaligen Mitschüler, die sich vor unserem Schultor versammelten. Ein Schwenk auf die Straße, ein Bus fuhr ins Bild, jener Bus, den ich in Frankfurt bestiegen hatte. Anschließend folgten, relativ abgehackt und offensichtlich ungeschnitten, ein paar Schwenks aus dem Fenster des Fahrzeugs, kurze Innenaufnahmen, auf denen man wegen des Zigarettenqualms kaum etwas erkennen konnte. Ich kam ins Bild, mein altes Ich, Falk Lutter, den Gang entlangstolpernd. Dann Wiesen. Der Brunnen. Françoise und Bertrand, mit Plastikkörben beladen. Bäume. Ein Schwenk durch den Frühstücks- und Partyraum. Zwischendrin ein paar Gesichter, kurz eingefangen, Heiko, Tine, Harald, der dritte Martin, wieder ich,
die Sabines drei
, danach Gerry von halbschräg hinten, Frau Erdt, auch von hinten, auf dem Weg zum Klo, mit hängenden Schultern. Eine längere Sequenz, die erst mich, auf der Wiese stehend und mit einer Karte in der Hand, und dann, nach kurzem Schwenk, HerrnBonker zeigte, der mir just in diesem Augenblick zuwinkte. Mir wurde schwarz vor Augen. Ich griff nach dem Projektor und riss das Stromkabel heraus.
    Um es nach einer dringend nötigen Verschnaufpause dann doch wieder einzustöpseln.
    Es ging weiter mit Landschaftsaufnahmen – tröpfelnde Regenrinnen, Wasser, über Kopfsteinpflaster fließend, einige Close-ups regennasser Blumen und Gräser, teilweise unscharf. Eine Abfolge von Blitzen vor dunklem Himmel, beeindruckend plastisch. Die nassen Dächer der Herberge im Licht der Dämmerung.
    Und dann die Schulklasse, hauptsächlich aus Rücken bestehend und in der Dunkelheit kaum zu erkennen, auf ihrem Weg zum »Trois arbres«, zum Pilzepflücken. Alles stumm, ohne Ton. Zwei kurze Schüsse, die Kamera vermutlich in Schulterhöhe oder unter der Achsel, auf Thomas, der wild am Kneipentisch gestikuliert.
    Herr Bonker, alleine im schummrigen Flur stehend, neben der Tür zu seinem Zimmer. Die bis zu diesem Augenblick verstörendste Aufnahme, denn Herr Bonker lächelt nicht, wähnt sich offenbar unbeobachtet, sein Brustkorb hebt und senkt sich deutlich. Vor ihm, am Boden, stehen ein Koffer und die berühmte Aktentasche. Dann kommt Chrissie ins Bild, die Kamera wackelt, der Blickwinkel verändert sich, plötzlich ist weißgelbe Wand zu sehen, der Fußboden, Arndt versteckt sich ganz offensichtlich in unserem Zimmer. Ohne Schnitt verändert sich die Perspektive wieder. Herr Bonker blickt fast in Richtung der Kamera, aber auf Chrissie, die vor ihm steht und mit einem Finger seine Brust berührt. Der Lehrer schüttelt den Kopf, Chrissie auch. Zehn Sekunden Wackelei, verwischende Bilder, wieder die beiden. Herr Bonker sieht zu Boden, Christine dreht sich auf den Hacken um, die Kamera bewegt sich hastig, aber es gibt noch eine kurze Einstellung vonihr im Halbprofil, hämisch grinsend, aber in ihrem Blick ist auch etwas Unsicheres zu erkennen.
    Die Spule endete mit einer ebenfalls sehr langen Szene. Sie eröffnete mit vielen wackligen und hauptsächlich unscharfen Aufnahmen des Fußbodens im Verliererzimmer. Dann folgten dunkle, an den Aufmarsch einer Armee erinnernde Einstellungen, die menschliche Beine zeigten, die sich schließlich zu einem seltsamen Stillleben anordneten, wie ein abendlicher Wald, durch den von hinten flaues Dämmerlicht dringt. Der Blickwinkel wanderte etwa auf Hüfthöhe, verharrte dort. Plötzlich änderten sich die Lichtverhältnisse, weil die Tür zu Herrn Bonkers Zimmer geöffnet wurde. Turbulenzen und viel Wackelei. Die Kamera bewegte sich horizontal, Arndt hatte offenbar versucht, sich seitlich so aufzustellen, dass sein Objektiv von schräg unten vorbeischaute. Das gelang für ein paar Sekunden, die ich mir ungefähr zwanzig Mal anschaute.
    Ich hatte mich nicht mehr daran erinnert, wie statisch, wie skulpturartig dieser lange Moment gewesen war. Die vielköpfige Bestie direkt vor dem Zubeißen war erstarrt, fixierte ihr Opfer, dessen Gesicht nur zur Hälfte zu sehen war, allmählich zerfallend. Dann mussten die Schreie der Mädchen, das vielstimmige »Iiihh!« erklungen sein, es kam Bewegung in die Gruppe, Chrissies Körper – Kopf und Beine befanden sich außerhalb des Bildausschnitts – bewegte sich in Richtung Kamera, und der Film endete nach einem letzten Wackler zur Seite und dem abgebrochenen Versuch eines Zooms in die

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