Sommerhit: Roman (German Edition)
Totale.
Ich lauschte dem Knattern des um die Spule schlagenden Streifens noch eine Weile, starrte auf die am Rand ausgefaserte, weiße Fläche, die der Projektor auf meine Wohnzimmerwand warf, ein Härchen hing offenbar hinter dem Objektiv und zitterte im unteren Bereich der Fläche wie der Finger eines alten Mannes, der Kindern hinterherschimpft.
Trotz der unscharfen, schlecht ausgeleuchteten, grobkörnigen Bilder war es enorm plastisch und real – und zugleich wie ein völlig fiktiver Film. Dieser Streifen zeigte einen der zwei, drei wichtigsten Augenblicke meines bisherigen Lebens, wie mir jetzt bewusst wurde. Er zeigte auch Geschehnisse, für die man mich hatte bezahlen lassen – und Chrissie, wenn auch indirekt. Wie es ihr wohl ging? Ob sie es geschafft hatte, das Trauma zu überwinden?
Ich sah mir den Film noch zwei Mal an. Es war mein endgültiger Abschied von Falk Lutter.
Vernichtung (1980/1990)
Während der anderthalb Tage im auch tagsüber nicht viel schöneren Kühlungsborn, die wir vor allem in Sonjas Wohnung verbrachten, um nicht zufällig auf unsere Eltern zu treffen, lernte ich meinen Neffen kennen, den meine Schwester beinahe Falk genannt hätte. Er hieß Michael, war ein scheuer, hellblonder Junge mit braunen Augen und etwas linkischem Wesen, aber er war ja auch erst sechs Jahre alt. Meine Schwester und ich saßen am Wohnzimmertisch, Michael hockte in einer Ecke auf dem Boden und spielte mit einer Blechautobahn aus DDR-Produktion, wovon er ab und zu aufblickte, um mich skeptisch zu mustern. In diesen Momenten fragte ich mich, welche Bedeutung der Begriff »Onkel« wohl für ihn hatte.
Die Wohnung war winzig, jedoch liebevoll eingerichtet. Es roch nach Zitrone, einer Spur von Brennspiritus, dem nahen Meer und dieser neuen Note, die Sonja angenommen hatte. Sie war schwer einzuordnen. Süßlich, aber nicht von einem Parfüm, dafür war es zu dezent, und ein ganz klein wenig holzig. Ein Eichenblatt im September, kam mir in den Sinn, aber es passte nicht ganz.
Wir tranken literweise Westkaffee und ein paar Gläser viel zu süßen Rotwein, während meine Schwester stockend, aber mit festem, hartem Blick ihre Geschichte erzählte.
Bis zum späten Vormittag des 4. Juli 1980 hatte sie in der Grenzbaracke gesessen, ohne dass ihr jemand erklärte, was geschehen war oder geschehen würde. Ein Soldat brachte eine Tasse »im nu« und tätschelte dabei ihren Hals, eine leise Vorahnung dessen, was auf sie zukommen würde.
Sie wurde nach Lübben gefahren, in den Spreewald, zu Jürgen und dessen Frau, die sie zuvorkommend, aber auch irgendwie distanziert behandelten. Mit Tante Cordi zu telefonieren, wurde ihr nicht gestattet – ohne Begründung.
Dort verbrachte sie einige Wochen, ohne auch nur ein Wort darüber zu erfahren, was all das zu bedeuten hatte. Einmal versuchte sie auszureißen, um sich irgendwie nach Dresden durchzuschlagen, aber sie schaffte nicht einmal die paar Kilometer bis nach Alt Zauche. Danach wurde sie von Jürgen in die hitzeglühende Dachkammer gesperrt.
Im August wurde sie abgeholt und nach Berlin gefahren, wo man sie verhörte, und erst dort erfuhr sie von der Republikflucht ihrer gesamten Familie. Man verschwieg ihr, dass Klaus-Peter in die DDR zurückgekehrt war. Die Zeit danach nahm sie wie in Trance wahr. Anfang 1981, da lebte sie schon bei einem kinderlosen Ehepaar in Hohen Neuendorf, nördlich von Berlin, versuchte sie, sich umzubringen. Die gezackten, kurzen Narben an ihrem linken Handgelenk gaben Zeugnis davon – glücklicherweise hatte sie den Schnitt quer angesetzt, und ihr Pflegevater hatte sie bereits nach wenigen Minuten gefunden.
Dieser Mann war unter anderem hoher FDGB-Funktionär, ein mächtiger, stark behaarter Kerl mit flächigen Muttermalen am Hals und im Gesicht. Sie schätzte ihn auf damals Anfang fünfzig. Seine Frau war etwa fünf Jahre jünger und litt an einer neuronalen Störung, die sie die meiste Zeit schweigend im Sessel am Wohnzimmerfenster sitzen oder im Bett liegen ließ. Der Haushalt wurde bei Sonjas Ankunft von einer Polin erledigt, die der Mann als »Zugehfrau« bezeichnete; später wurde das Sonjas Aufgabe.
Schon in der ersten Nacht kam der Hausherr und bedrängte seinen neuen, bildhübschen Schützling. Beinahe höflich erklärte er ihr vorher, lässig auf der Bettkante sitzend, dass esnicht den geringsten Sinn hätte, sich zu wehren, zu schreien oder anschließend davonzulaufen. Sie würde gefunden werden, niemand würde ihr glauben
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