Sommerkind
und langen Wimpern. Und sein unbeschwertes Lachen vermittelte ihr ein Gefühl von Geborgenheit.
“Erzähl mir mehr über das Baby, Daria”, forderte er sie auf.
“Ich war heute Morgen schon sehr früh am Strand, um mir den Sonnenaufgang anzusehen und Muscheln zu sammeln. Und dann habe ich einen Pfeilschwanzkrebs-Panzer umgedreht, und darunter lag das Baby.” Sie wollte ihm nicht von dem Blut erzählen.
“Und offensichtlich war es erst kurz zuvor zur Welt gekommen, nicht?” Er sah zu Darias Mutter, und diese nickte zustimmend.
“Irgendjemand hat sie dort oder zumindest in der Nähe geboren und zum Sterben zurückgelassen”, sagte Darias Mutter.
“Du liebe Güte.” Pfarrer Macy blickte betroffen drein. “Ist sie denn … am Leben?”
“Ja, Gott sei Dank, das ist sie”, antwortete Sue Cato. “Sie liegt in Elizabeth City im Krankenhaus. Wir haben sie gerade besucht. Es geht ihr gut. In ein paar Tagen kann sie wahrscheinlich nach Hause. Aber sie
hat
kein Zuhause, und deswegen sind wir hier.” Zum ersten Mal nach Betreten des Büros strahlte Darias Mutter ein gewisses Unbehagen aus. Sie sah auf ihren Schoß hinab und spielte mit der Schnalle ihrer Geldbörse. Daria wartete ungeduldig, dass sie weitersprach.
“Mein Mann und ich möchten sie gern adoptieren”, sagte sie schließlich. “Natürlich nur, wenn niemand sonst Ansprüche geltend macht. Und wir haben uns gefragt, ob Sie uns dabei helfen würden. Ob Sie sich zu unseren Gunsten aussprechen würden?”
Pfarrer Macy machte ein nachdenkliches Gesicht. “Wissen Sie eigentlich, was für ein Wunder das ist?”, fragte er dann. “Dass Daria dieses Kind noch rechtzeitig gefunden hat? Dass es von jemandem gefunden wurde, der Teil einer so gläubigen, einer so heiligen und gesegneten Familie wie der Ihren ist?”
Zum zweiten Mal an diesem Nachmittag war Daria den Tränen nah.
“Ja”, sagte ihre Mutter leise. “Ja, wir sind uns bewusst, dass der Herr uns auserwählt hat.”
“Ich werde mich mit dem Krankenhaus in Verbindung setzen”, fuhr Pfarrer Macy fort und erhob sich. “Und auch mit der staatlichen Adoptionsvermittlungsstelle. Ich werde alles in meiner Macht Stehende tun, damit das Kind zu Ihnen kommt. Denn ich kann mir für die Kleine kein besseres Zuhause vorstellen.”
Eine Woche später kam das Baby im Sea Shanty an und wurde sofort zum Star in der Nachbarschaft. Jeder aus der Straße kam vorbei, um sich das kleine Mädchen anzusehen und über seinen grausamen Start ins Leben den Kopf zu schütteln. Sue Cato gab ihm den Namen Michelle oder kurz: Shelly. Aber niemandem außer Daria schien die Ironie des Namens aufzufallen. Sie hatte sich darüber gefreut, wie passend er war. Die Leute hatten indessen eine andere Ironie des Schicksals kommentiert: dass dieser blonde, blasse Winzling nun Teil des dunkelhaarigen, griechischstämmigen Cato-Clans war.
Den ganzen Sommer lang hatte Darias Mutter auf der Veranda gesessen, das Baby in ihren Armen gewiegt und jedem Besucher erzählt, dass Shelly ein Geschenk des Meeres sei.
“Daria?”
Der Klang von Chloes Stimme ließ Daria hochschrecken. Sie setzte sich auf und schüttelte die Erinnerungen ab.
“Shelly ist wieder da”, rief Chloe von unten. “Komm runter zum Kuchenessen.”
“Ich komme!”, antwortete Daria, erleichtert, dass Shelly wohlbehalten zurückgekommen war. Sie fuhr sich mit den Händen durchs Haar und lief nach unten, um die junge Frau zu umarmen, die zugleich ihr Glück und ihr Kummer war, ihr Stolz und ihre Bürde.
2. KAPITEL
A ls das Flugzeug am Gate zum Stehen kam, löste Rory den Gurt und stand auf, um den Rucksack aus dem Gepäckfach zu holen. Er gab ihn seinem Sohn, der noch immer angeschnallt in seinem Sitz saß und keinerlei Anstalten machte auszusteigen. Den Blick starr aus dem Fenster gerichtet, trommelte Zack einen imaginären Rhythmus auf seinem Bein. Er war fünfzehn Jahre, und die Aussicht, den ganzen Sommer mit seinem Vater an der Ostküste zu verbringen, stimmte ihn verdrießlich. Der Flug war anstrengend gewesen, zumindest für Rory, der mit allerlei Tricks versucht hatte, seinem Sohn ein paar Worte zu entlocken – doch vergeblich.
“Komm”, sagte Rory, “lass uns das Mietauto holen und uns auf den Weg machen.”
Mit einem abgrundtiefen Seufzer löste Zack den Sicherheitsgurt und trottete hinter seinem Vater den Gang hinunter.
“Herzlich willkommen in Norfolk, Mr. Taylor”, sagte die Flugbegleiterin, als Rory an ihr vorbeiging. Sie hatte sich
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