Sommerkind
können, und deshalb fragte sie weiter: “Aber warum schreien die Frauen dann so? Ich meine, einmal bin ich gestürzt und habe mir den Arm gebrochen, und obwohl es höllisch wehtat, habe ich nicht geschrien. Also müssen die Schmerzen bei einer Geburt doch tausendmal schlimmer sein.”
In Nancys Blick lag Mitgefühl. “Ich habe es nie selbst durchgemacht”, erklärte sie, “also kann ich leider nicht aus eigener Erfahrung sprechen.”
Bildete Grace es sich ein, oder warf Nathan seiner Frau bei diesen Worten tatsächlich einen vielsagenden Blick zu? Seine Brillengläser waren so dick, dass sie seine Augenbewegungen nur schwer erkennen konnte.
“Aber alle Frauen, die ich kenne, überstehen das Ganze gut”, fuhr Nancy fort. “Ja, vielleicht schreien sie, aber nach wenigen Jahren zucken sie nur noch die Achseln und machen es noch mal. So lohnenswert ist das Ergebnis für sie. Ehrlich, Grace, willst du den letzten Monat deiner Schwangerschaft wirklich damit verbringen, dir darüber Sorgen zu machen?”
Grace ließ den Kopf gegen die Sessellehne fallen. Auf einmal übermannte sie all ihr Kummer. “Sorge ist seit einiger Zeit mein zweiter Vorname”, gestand sie. “Ich weiß nicht, was ich machen soll. Wie bringe ich es meiner Mutter bei? Wo soll ich wohnen? Ich habe nur noch wenig Erspartes. In den ersten Wochen kann ich das Baby stillen, stimmt's? Da brauche ich ihm noch kein Essen zu kaufen.”
Nancy sah sie einen Moment durchdringend an, ehe sie antwortete. “Du bist überhaupt nicht auf ein Kind vorbereitet. Du brauchst staatliche Unterstützung. Ihr lebt in Charlottesville, habt ihr gesagt? Schreib mir mal deinen Namen und deine Telefonnummer auf. Sobald ich wieder in Elizabeth City bin, werde ich mich erkundigen, wo du dir Hilfe holen kannst. Einverstanden?”
“
Danke”
, sagte Grace. Plötzlich fühlte sie sich nicht mehr so allein. Bonnie war eine gute Freundin und unterstützte sie nach Kräften, aber sie wusste genauso wenig über Geburten und Babys wie Grace.
“Und”, fügte Nancy hinzu, “ich finde, wenn du wieder in Charlottesville bist, solltest du es deiner Mutter sagen.”
Grace schüttelte heftig den Kopf. “Du kennst meine Mutter nicht. Außerdem glaube ich sowieso nicht, dass ich wieder nach Hause gehen kann. Ich werde zu rund. Sie würde es sofort merken. Bonnie und ich müssen uns noch überlegen, wo ich nächsten Monat unterkriechen kann.”
Nancy seufzte, und Grace entging nicht ihr missbilligender Gesichtsausdruck. “So kann man doch nicht leben, Grace. Pass auf: Ich besorge dir die Informationen über die Behörden, von denen du Unterstützung erwarten kannst. Aber ich möchte, dass du mir eines versprichst.”
“Was?”
“Wenn dieses Kind auf der Welt ist, besorgst du dir die Pille. Das darf kein zweites Mal passieren. Das Baby, das du in dir trägst, hätte nie gezeugt werden dürfen.”
Grace hätte gern gesagt, dass es nicht ihre Schuld war. Sie hätte gern erzählt, was ihr auf Hawaii widerfahren war. Doch sie hätte Nein zu Brad sagen können; sie hätte Nein zu Joey sagen können. Niemand hatte sie vergewaltigt. Also
war
es ihre Schuld.
“Ich weiß”, erwiderte sie. “Glaub mir, es wird nie wieder passieren. Und schon gar nicht so.”
In den nächsten Tagen lugte die Sonne häufiger zwischen den Wolken hervor. Oft genug, dass Nancy und Nathan beschlossen, auch den restlichen Urlaub in Kill Devil Hills zu verbringen, und lange genug, dass Bonnie nicht mehr ständig herumnörgelte. Der angekündigte Sturm traf sie am Samstag. Doch entgegen der Vorhersagen war es kein Hurrikan, sondern ein Tropensturm, der eine Evakuierung nicht erforderlich machte. Dennoch verließen die meisten Urlauber am Samstagmorgen die Outer Banks. Nicht so Grace und Bonnie, denn sie würden am nächsten Tag die Miete zahlen und das Cottage bis ein Uhr mittags räumen müssen. Doch Grace, die immer noch keine Ahnung hatte, wo sie unterkommen sollte, war noch nicht zur Heimreise bereit. Sie hatte Nancy ihre Telefonnummer gegeben, damit die Krankenschwester sie anrufen konnte, sobald sie die versprochenen Informationen für sie hatte. Sie wünschte, es wäre nicht Sommer, sondern Winter, und sie könnte ihren Bauch unter dicken Pullis verstecken. Vielleicht sollte sie der Begegnung mit ihrer Mutter einfach aus dem Weg gehen.
Bei Einbruch der Dunkelheit pfiff der Wind bereits um ihr Cottage, das so gefährlich erzitterte, als bräche es gleich zusammen. Zum ersten Mal in dieser Woche
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