Sommerkind
wenn sie am Strand sein kann”, versuchte sie es. “Als sie noch klein war, kamen wir nur im Sommer hierher. Das restliche Jahr über lebten wir in Norfolk. Nach und nach haben wir festgestellt, dass sie eine Art … gespaltene Persönlichkeit hatte. Den Winter über war sie ängstlich und depressiv und im Sommer entspannt und gut gelaunt.”
“Aber sind nicht die meisten Kinder so?” Rory lächelte. “Also, ich war es ganz bestimmt.”
“Ja, aber aus anderen Gründen”, erwiderte sie. Auf der Dachterrasse wurde es immer dunkler, und sie nahm die Sonnenbrille wieder ab. “Anfangs dachten wir, es läge daran, dass sie im Winter zur Schule muss und im Sommer nicht, so wie es bei vielen Kindern ist. Doch mit der Zeit merkten wir, dass es der Strand selbst war, der sie glücklich machte. Als sie etwa sieben Jahre war und wir wieder einmal nach Kill Devil Hills fuhren, hatte Dad gerade den Wagen in die Auffahrt gelenkt, da sprang sie auch schon aus dem noch rollenden Auto hinaus und lief zum Strand. Sie setzte sich an genau die Stelle, wo ich sie gefunden hatte. Dabei konnte sie das überhaupt nicht wissen. Sie saß einfach nur da und blickte aufs Meer hinaus – ganz allein, den ganzen Nachmittag. Es war, als würde sie sich endlich entspannen.”
Rory schauderte. “Das ist schon irgendwie unheimlich.”
“Ja, allerdings. Aber in all den Jahren habe ich gelernt, es zu akzeptieren. Sie braucht den Strand. Punkt. Nach dem Tod unserer Mutter bin ich jedes Wochenende mit ihr hergefahren. Nur wir zwei. Dad war …” Die Jahre, die ihr Vater als Witwer verbracht hatte, waren ihr wie ein einziger langer Herbst in einem kaum gelebten Leben im Gedächtnis. “Dad hat sich nach Moms Tod sehr zurückgezogen. Er hat sich nie mit anderen Frauen oder Freunden getroffen, obwohl er erst in den Fünfzigern war. Er hat immer mehr Zeit in der Kirche verbracht. Chloe und ich haben immer gesagt, er wäre mit Gott verabredet.” Bei dem Gedanken musste sie lachen. “Er liebte Shelly und mich, aber im Grunde waren wir auf uns gestellt. Shelly konnte also an den Wochenenden neue Kraft tanken. Doch dann – sie war zwölf und machte mit ihrer Klasse eine Exkursion zu einem Museum in Norfolk – war sie verschwunden. Wir wussten nicht, was passiert war; ob sie vielleicht jemand entführt hatte.” Dass ihrer Schwester so etwas zuvor schon einmal passiert war, wollte Daria zunächst noch für sich behalten.
“Die Polizei hat nach ihr gesucht”, fuhr sie fort. “Und als sie am nächsten Tag immer noch nicht aufgetaucht war, rief ich Chloe in Georgia an. Chloe meinte, Shelly könnte irgendwie nach Kill Devil Hills gelangt sein. Es schien unmöglich, aber am Ende stellte sich heraus, dass es tatsächlich so war. Wir haben nie herausgefunden, wie genau sie hierhergekommen ist – ich vermute, mit dem Bus und per Anhalter. Sie hatte eines der Fenster eingeschlagen, um ins Haus zu kommen, und es sich drinnen gemütlich gemacht. Da dachte ich: Jetzt reicht es, und wir sind hergezogen.” Erneut schweifte ihr Blick zum Sea Shanty. “Manchmal zweifle ich immer noch daran, ob es die richtige Entscheidung war. Vielleicht hätte ich sie zwingen müssen, sich irgendwo anders durchzukämpfen, denn – ehrlich gesagt – heute ist es mit ihr noch schlimmer als damals. Wann immer wir aufs Festland müssen, um jemanden zu besuchen oder zum Arzt zu gehen, wird sie panisch. Aber ich liebe sie eben.” Sie schaute Rory direkt in die Augen und spürte seine Anteilnahme. “Wenn ich merke, dass sie leidet, zerreißt es mir das Herz”, sagte sie. “Und das Glück in ihrem Gesicht zu sehen, wenn sie an ihrem Strand ist, entschädigt mich für jedes kleine Opfer.”
“Vielleicht war es aber auch genau der richtige Schritt”, meinte Rory. “Ihre Arbeit macht sie doch anscheinend gut. Glaubst du, sie hätte das auch in Norfolk geschafft?”
“Ich glaube, dann wäre sie morgens noch nicht mal aus dem Bett gekommen. Und du hast recht: Sie macht ihre Arbeit wirklich sehr gewissenhaft. Aber trotzdem könnte sie nicht allein leben oder sich selbst versorgen. Sean Macy – der Pfarrer von St. Esther's – und die anderen, die sie beaufsichtigen, geben ihr bei ihrer Arbeit viel Hilfestellung. Manchmal glaube ich, sie beschäftigen sie nur aus Mitleid. Vermutlich wäre sie nicht imstande, irgendwo sonst zu arbeiten.” Auf einmal hatte Daria das Gefühl, ein äußerst einseitiges Bild von ihrer Schwester zu zeichnen, und fügte deshalb schnell hinzu:
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