Sommerkind
“Sie hat natürlich auch viele positive Seiten. Sie ist so gutmütig und liebenswert. Sie ist kreativ. Ihr Schmuck ist sehr gefragt. Sie ist eine großartige Schwimmerin. Und sie hat eine äußerst anmutige Figur.”
“Ja”, warf Rory ein, “das ist mir nicht entgangen.”
“Sie kann zwar nicht selbstständig arbeiten, aber sie spielt hervorragend Volleyball.” Daria lächelte. “Sie ist in allem gut, was Spaß macht. Aber die ernsten Dinge des Lebens bekommt sie einfach nicht sonderlich gut hin.”
Rory lachte. “Vielleicht sollten wir uns alle eine Scheibe von ihr abschneiden.” Dann beugte er sich vor. Sein Gesicht war nun ernst und dicht an ihrem. Um seine Augen konnte sie feine Linien erkennen. “Ich verstehe wirklich gut, was du mir sagen willst und warum du dich um Shelly sorgst. Aber ich bin sicher, sie wusste genau, was sie tat, als sie mir den Brief geschrieben hat. Sie wusste, worum es in meiner Sendung geht und dass ich in der Lage bin, ihr zu helfen.”
Darias Augen füllten sich vor Wut mit Tränen. Er hatte es noch immer nicht begriffen. “Shelly ist so verletzlich”, sagte sie. “Sie ist zerbrechlich. Es gibt so viele Menschen, die sie nur ausnutzen wollen, und davor muss ich sie beschützen. Sie würde nämlich einfach alles tun, wenn sie glaubt, damit jemandem zu helfen.”
“Willst du damit sagen, sie will mir ihre Geschichte nur aus übertriebener Hilfsbereitschaft erzählen?”
Daria schüttelte den Kopf. “Nein, natürlich nicht. Anscheinend liegt ihr sehr viel daran, dass du diese Sendung mit ihr machst. Das kann ich nicht leugnen. Aber ich halte es für falsch, diesen elenden Schlamassel aufzuwärmen oder sie mit der Frau zu konfrontieren, die … die versucht hat, sie zu töten.”
Bei Darias letzten Worten lehnte Rory sich zurück. Sie fuhr fort.
“Wir geben Shelly ein Gefühl der Sicherheit. Sie weiß, dass wir sie lieben, und zwar seit dem ersten Tag. Warum daran herumdoktern? Ich weiß nicht, was sie davon haben sollte, wenn die Wahrheit ans Licht kommt.”
“Vielleicht ist die Wahrheit ja auch positiv”, gab Rory zu bedenken. “Vielleicht bereut ihre leibliche Mutter ihre grausame Tat und würde sich freuen zu erfahren, dass Shelly lebt und es ihr gut geht.”
“Du baust Luftschlösser, Rory.” Daria spürte, dass sie Rorys Geduld auf eine harte Probe stellte.
“Ich verstehe dich besser, als du denkst”, entgegnete er. “Dasselbe, was du für Shelly empfindest, habe ich für Polly gefühlt.”
Für einen Moment hatte sie vergessen, wie hingebungsvoll er sich um seine Schwester gekümmert hatte. “Ich habe Polly immer noch genau vor Augen”, sagte sie. Polly hatte einen kompakten Körperbau, weißblonde Haare und mandelförmige Augen gehabt. Daria konnte sich gut erinnern, wie Rory seine Schwester gegen die Sticheleien anderer Kinder verteidigt hatte. Dass er sich Zeit genommen hatte, um mit ihr zu spielen. Sein Umgang mit Polly war einer der Gründe gewesen, warum sie sich so von ihm angezogen gefühlt hatte.
“Weißt du noch, die Sache mit dem Angelhaken?”, fragte Rory lachend. “Als du von deiner Arbeit als Rettungsassistentin erzählt hast, musste ich sofort daran denken.”
Das hatte sie ganz vergessen: Einmal hatte sich ein Angelhaken durch Pollys großen Zeh gebohrt, und weder Rory noch seine Mutter hatten gewusst, wie sie ihn entfernen sollten. Aber Daria, die damals erst zwölf war, hatte das Kunststück vollbracht.
“Du wusstest ganz genau, was zu tun war”, sagte Rory. “Es ergibt also durchaus Sinn, dass du im medizinischen Bereich tätig bist.”
“Mein Dad hatte mir erklärt, wie ich einen Angelhaken entferne, falls ich mal daran hängen bleibe”, sagte sie nüchtern. Sie wollte jetzt nicht über ihre Arbeit bei der Rettung sprechen und auf die Frage antworten, die das unweigerlich mit sich brächte: Warum hast du aufgehört? Deshalb wechselte sie das Thema. “Ich kann mich nicht daran erinnern, Polly und deine Eltern noch mal in Kill Devil Hills gesehen zu haben, nachdem du auf dem College warst.”
“Das stimmt.” Rory stieß einen tiefen Seufzer aus und streckte sich. Sein T-Shirt spannte über der Brust, und Daria wandte ihren Blick ab. Es war besser so, wenn sie nicht den Verstand verlieren wollte. “Nicht ein Mal waren sie noch hier”, sagte er. “Erst da habe ich begriffen, dass sie das Cottage eigentlich nur für mich gekauft hatten. Damit ich den ganzen Sommer am Strand verbringen konnte. Aber verkauft haben
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