Sommerkind
ihn sein. Immerhin hatte er ihre Bedenken wissentlich ignoriert. Aber wie könnte sie ihm böse sein, wenn doch Shelly in bester Laune nach Hause gekommen war? Sie hatte an jenem Abend von nichts anderem gesprochen: Rory hier, Rory da, und wie sicher sie sei, dass er ihre Mutter finde. Diese Sehnsucht nach ihrer leiblichen Mutter war ganz neu – zumindest für Daria. Wenn Shelly dieses Gefühl schon länger in sich trug, hatte sie es all die Jahre geheim gehalten. Daria hatte mit ihr über die Möglichkeit gesprochen, dass Rory nichts Neues herausfindet – eine sehr realistische Möglichkeit, da Daria alles dafür tun würde, dass es genauso käme. Doch Shelly hatte bloß die Schultern gezuckt. “Es kommt, wie es kommt”, war ihre Antwort gewesen. Diese Redewendung hatte sie von Chloe aufgeschnappt, und Daria fragte sich, ob sie sich über ihre Bedeutung wirklich im Klaren war.
“Und”, fragte Rory, nachdem er sich gesetzt hatte, “war das jemand, mit dem du ausgehst?”
Im ersten Moment verstand Daria überhaupt nicht, was er meinte. Dann musste sie lachen. “Nein, das ist Andy. Der ist ein bisschen zu jung für mich. Er ist auch Tischler, und wir arbeiten zusammen.”
“Aha”, sagte Rory.
Seine Frage war geradezu eine Einladung für sie, ebenso neugierig zu sein. “Und wie steht es mit der Frau, die du eben zum Auto gebracht hast? Ist das jemand, mit dem du ausgehst?”
“Noch nicht. Wir haben uns am Strand getroffen und ein wenig geplaudert. Ich glaube, wir liegen auf einer Wellenlänge. Sie hat sich erst vor Kurzem von ihrem Mann getrennt, und allem Anschein nach hat sie noch ziemlich daran zu knabbern.” Er blickte in die Richtung, in die das Auto davongebraust war. Sein Interesse war so offenkundig, dass es Daria fast schon aufdringlich vorkam, ihn nur anzusehen. “Glaubst du, es ist ein Fehler, mit jemandem auszugehen, der erst seit Kurzem wieder allein lebt?”, fragte er.
Ja. Ein großer Fehler sogar, solange es mich gibt, die dich will und direkt gegenüber wohnt.
“Kommt darauf an”, sagte sie. “Trägt sie viel Gefühlsballast mit sich herum?”
“Tun wir das nicht alle?”, fragte Rory mit einem Lächeln.
“Du sprichst wohl von dir”, erwiderte sie, obgleich sie selbst eine ganze Lkw-Ladung mit sich herumschleppte.
“Ich schätze, das tut sie”, gab Rory seufzend zu. “Sie wirkt so … verletzt. Als müsste man auf sie aufpassen.”
“Du warst schon immer ein Beschützertyp.” Sie ärgerte sich über den gereizten Ton in ihrer Stimme.
Rory stöhnte. “Hättest du das bloß nicht gesagt. Das waren auch immer die Worte unseres Eheberaters. Er sagte, Glorianne hätte hilflos und bedürftig auf mich gewirkt, als ich sie traf; sie hätte mir leidgetan, und ich hätte sie retten wollen. Und als sie dann stärker wurde, hätte ich mich nicht länger gebraucht gefühlt. Aber ich halte nicht viel von dieser Auslegung. Ich glaube, als sie stärker wurde, sind ihre und meine Kraft aufeinandergeprallt, weil unsere Wertvorstellungen so verschieden waren. Ich finde nicht, dass ich ein Beschützertyp bin.”
Daria grinste ihn an. “Erinnerst du dich noch an diesen Jungen, der von allen geärgert wurde, weil er nie einen Fisch gefangen hat?”
Wieder stöhnte Rory.
“Du hast ihm eine Handvoll Fische in seinen Eimer gelegt”, sagte sie. Damals hatte sie geglaubt, das sei die typisch freundliche Rory-Taylor-Art. Nun wurde ihr klar, dass er ein krankhafter Retter war. Eine starke Frau hatte bei ihm nicht die geringste Chance, und das machte sie plötzlich fuchsteufelswild.
“Na und?”, verteidigte er sich. “War das vielleicht ein Verbrechen?”
“Und Polly? Sie hast du auch immer vor allem und jedem gerettet.”
“Und du rettest immer Shelly vor allem und jedem.”
“Na gut. Das Retten von Schwestern lassen wir hierbei mal außen vor. Zurück zu der Frau.”
“Grace.”
“Grace.” Sie nickte. “Wenn du wachsam bleibst, ist es wahrscheinlich in Ordnung, mit ihr auszugehen. Denk nur daran, dass sie zurzeit wohl nicht allzu überlegt handelt.”
“Sprichst du da aus Erfahrung?”
“Was willst du damit andeuten?”
“Ich will keine alten Wunden aufreißen. Aber Shelly hat mir erzählt, dass dein Verlobter dich vor wenigen Monaten verlassen hat.”
“Wir reden aber gerade von
dir
, Rory, nicht von mir.” Sie lachte, so als wollte sie ihn ärgern, doch in Wahrheit war sie einfach nur nicht in der Stimmung, über Pete und ihre gescheiterte Beziehung zu
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