Sommerkind
“Das war mir damals ja noch nicht einmal selbst klar. Ich wusste nur, dass ich anders war.”
“So wie ich weiß, dass ich anders bin”, sagte Shelly. Sie hoffte, dass Linda sie jetzt nicht für eine Lesbe hielt. Denn das war sie ganz sicher nicht. Sie konnte sich nur schwer vorstellen, dass eine Frau mit einer anderen Frau zusammen sein wollte. Doch sie mochte Linda und Jackie, und wenn die beiden miteinander glücklich waren, war es kein Problem für sie.
“Du bist auf
wunderbare
Art anders, Shelly”, sagte Linda. Sie schimpfte mit einem ihrer Hunde, der an dem umgedrehten Panzer eines Pfeilschwanzkrebses schnupperte, und der Hund trottete folgsam zu ihr herüber, um einen der Hundekuchen abzustauben, die sie in der Tasche ihres Pullis versteckt hatte.
Shelly hätte Linda gern erzählt, dass Daria bis über beide Ohren in Rory verliebt war, aber sie wusste, dass ihre Schwester etwas dagegen gehabt hätte, wenn sie es in der Nachbarschaft herumerzählte. Dabei freute sie sich doch so, endlich wieder Leben in Darias Augen zu sehen … Auch wenn Rory noch nicht begriffen hatte, dass ihre Schwester hübsch und zu haben war. Shelly hoffte, er würde es bald herausfinden. Und wenn nicht, müsste sie ihm wohl einen Wink mit dem Zaunpfahl geben. Nach der Trennung von Pete und ihrem Rückzug als Rettungsassistentin war Daria regelrecht scheintot gewesen, und Shelly sehnte sich danach, ihre Schwester wieder glücklich zu sehen. Sie würde alles für Daria tun, was es auch kosten mochte.
“Weißt du, warum Rory hier ist?”, fragte Shelly.
“Nein, warum?”
“Er will aufdecken, wer meine leibliche Mutter ist.”
Linda wich einen Schritt zurück. Ihre Augen waren hinter den runden Brillengläsern weit aufgerissen. “Und wie in Gottes Namen will er das anstellen?”
“Ich weiß nicht, aber er will es tun. Er will meine Geschichte bei 'True Life Stories' erzählen. So richtig, von Anfang an.”
Für einen Augenblick war Linda ganz still. Gedankenverloren gab sie ihren Hunden ein paar Leckerlis und schürzte nachdenklich die Lippen. “Willst du das wirklich wissen, Shelly?”, fragte sie schließlich. “Ich habe dich immer als Teil der Cato-Familie angesehen.”
“Ja, ich will es wissen.” Shellys Augen funkelten. Warum überraschte das jeden? “Es war meine Idee. Ich habe ihm geschrieben und ihn um Hilfe gebeten. Würdest du nicht erfahren wollen, wer deine richtige Mutter ist?”
“Doch, ich denke schon. Aber was, wenn … deine richtige Mutter jemand ist, den du verachtest?”
“Ich verachte niemanden”, entgegnete Shelly. Außer vielleicht Ellen, dachte sie, und schämte sich sogleich für diesen Gedanken.
Einer der Hunde erleichterte sich neben dem Muschelpanzer, und Linda schaufelte das Häufchen in einen Plastikbeutel.
“Tja”, sagte Linda, während sie den Beutel zuknotete und neben sich in den Sand legte. “Und was, wenn du sie nicht respektieren kannst? Wenn du keine Zeit mit ihr verbringen oder nichts mit ihr zu tun haben willst? Wie würde es dir dann gehen? Ich meine, vielleicht ist es am besten, die Dinge so zu belassen, wie sie sind.”
“Du hörst dich an wie Daria und Chloe.” Shelly war verärgert. “Der Einzige, der mich in der Suche nach meiner Mutter unterstützt, ist Rory. Ich bin so froh, dass er hier ist.”
“Ich glaube, Daria und Chloe … und ich … wir wollen dich nur vor einer Enttäuschung bewahren.”
“Aber dafür ist es doch längst zu spät. Irgendjemand hat mich als Baby am Strand einfach weggeworfen, und mein Gehirn hat sich nie so gut entwickelt, wie es normal wäre. Und jetzt möchte ich gern die Frau treffen, die das getan hat. Ich möchte verstehen, warum sie mir das angetan hat.”
“Könntest du ihr diese Tat denn je vergeben?”
“Ich kann jedem alles vergeben”, sagte Shelly überzeugt. “Pfarrer Sean sagt immer, Vergebung ist der höchste Wert, den ein Mensch besitzt.”
Linda schüttelte den Kopf, ein Lächeln lag auf ihren Lippen. “Ich wünschte, ich wäre ein bisschen mehr wie du, Shelly”, sagte sie. Sie pfiff nach ihren Hunden, die sogleich zu ihr kamen. Sie gab ihnen noch ein paar Leckerlis, bevor sie den vollen Plastikbeutel aufhob. “Ich komme in den nächsten Tagen mal wegen der Kette bei euch vorbei, in Ordnung?”, fragte sie.
“Okay. Ist es eine Überraschung? Soll ich aufpassen, was ich Jackie erzähle?”
“Ja, bitte. Und … sag Rory, er soll dich zu nichts überreden, was du nicht willst.”
Shelly verdrehte
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