Sommerkind
hatte er dieses Gefühl nicht. Sie hatte ihn nicht nach Ruhm oder Vermögen gefragt, sondern nach seinen Ideen und besonders nach der Findelkind-Folge von “True Life Stories”.
Weit draußen auf dem Meer erspähte er zwei Schiffe, zwei kleine weiße Punkte, und er stellte sich vor, wie das Leben eines Leuchtturmwärters in der alten Zeit gewesen sein musste – die Stufen hochstapfen, nachsehen, ob die riesige Linse sauber war und das Leuchtfeuer brannte. Doch seine Gedanken verweilten nur kurz bei diesen Bildern und wanderten dann schnell wieder zu Grace.
Eigentlich hatte er sie schon eher anrufen wollen, und ihre frische Trennung und Darias warnende Worte zu seinem Beschützerinstinkt hatten nur zum Teil für sein Zögern gesorgt. Tatsächlich war es Zack, der ihn zurückgehalten hatte. Wie verabredete man sich, wenn man seinem fünfzehnjährigen Sohn als gutes Beispiel vorangehen wollte? Natürlich hatte er sich nach der Scheidung schon mit Frauen getroffen, jedoch nie an den Wochenenden oder während der Ferientage, wenn Zack bei ihm war. Sicher, Glorianne hatte sich nicht nur mit einem anderen Mann getroffen, sondern ihn gleich geheiratet, und auch diese Veränderung hatte Zack überlebt. Doch Glorianne war auch kein positives Vorbild für ihren Sohn, nicht im Geringsten. Er wollte es unbedingt besser machen. Gleichwohl wollte er sich nicht die Möglichkeit entgehen lassen, Grace näher kennenzulernen.
Er sah hinab zu Zack, der sich mit vor der Brust verschränkten Armen auf der Bank ausgestreckt hatte und vielleicht sogar schlief. Wahrscheinlich war er mit den Gedanken bei Kara, der Enkelin der Wheelers; der hübschen kleinen Person, die seit ihrer Ankunft in Kill Devil Hills an Zacks Fersen klebte. Vielleicht war
das
ein Weg, wie er an seinen Sohn herankam: Frauen. Mit Anekdoten über seine Abenteuer an den verschieden Orten, die sie besucht hatten, hatte er es bereits versucht und war kläglich gescheitert. Zack hatte nur gegähnt und genervt die Augen verdreht. Er könnte es ja mal mit einem richtigen Männergespräch versuchen. Bereit für einen neuen Anlauf, stürmte er die Wendeltreppe hinunter.
Zack war auf der Bank eingeschlafen, und Rory tippte ihn an die Schulter. “Können wir?”, fragte er.
“Ja.” Zack stand auf und ging mit Rory zum Parkplatz.
“Tja”, sagte Rory, als sie wieder im Auto saßen. “Wohin jetzt?”
“Wie wär's mit dem Poll-Rory?”
“Ach, komm schon, Zack. Ein Ort noch. Lass uns doch zu den Dünen nach Nag's Head fahren und den Drachenfliegern zusehen.” Rory wurde bewusst, dass sein Sohn die Dünen noch gar nicht kannte. So wie er selbst sie nicht mehr kannte. Denn obwohl sie für ihn einst den verlockendsten und spannendsten Ort auf den Outer Banks verkörpert hatten, so war er doch seit zwanzig Jahren nicht mehr dort gewesen.
“Von mir aus”, leierte Zack.
Schweigend fuhren sie einige Meilen, und Rory suchte nach einem Gesprächseinstieg. “Dann erzähl mir doch mal von Kara”, sagte er schließlich unbeholfen.
“Was willst du denn wissen?”
“Alles.”
“Es gibt nichts zu erzählen.”
“Wie alt ist sie denn?”
“Fünfzehn.”
“Und wo lebt sie den Winter über?”
“Philadelphia.”
“Und dieses Nabelpiercing: Wie lange hat sie das schon?” Warum hatte er das denn gefragt?
“Eine Weile, schätze ich.”
“Hat sie irgendwelche Hobbys?”
Zack verdrehte die Augen. “Was weiß ich.”
“Sie wirkt jedenfalls sehr nett.” Oh Gott, war das schlecht. Er hatte doch gar keine Ahnung, ob sie nett war oder nicht. Sie hatten bisher nicht ein Wort gewechselt, und das wusste Zack vermutlich auch.
Wieder herrschte Schweigen. Aus irgendeinem Grund musste Rory daran denken, wie er den dreijährigen Zack in Disneyland auf seinen Schultern getragen hatte. Ihm fiel wieder ein, wie Zack beim Softballspielen auf dem Spielplatz oder beim Kicken im Hinterhof versucht hatte, jede seiner Bewegungen nachzuahmen. Er erinnerte sich an Zack im Kinderschlafanzug, der bei Rorys Kitzelattacken gekichert oder über seine albernen Scherze gelacht hatte.
Krampfhaft blickte Rory auf die Straße, und plötzlich überkam ihn völlig unerwartet das Verlangen zu weinen. Er war überrascht, denn eigentlich war er keine Heulsuse. Nur als Polly gestorben war, hatte er einige Tränen vergossen, und als er von Gloriannes Affäre erfahren hatte, war er nah dran gewesen. Doch wieso jetzt? Er schluckte und starrte weiter nach vorn. Zack war alles, was er hatte. Warum
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